Sehnsucht nach Erdung

lavoce

von lavoce

Story

Als meine Füße zum ersten Mal den Boden berührten, wurden meine Knie von einer Welle des Neids erfasst und versuchten fortan, es ihnen gleichzutun.

Dieser unbändige Drang, den Boden zu küssen, wurde gepaart mit einem eigenartigen Verlangen. Dem Lechzen nach Blut.

Nur ein Tag, an dem sie ihr Inneres nach außen kehren konnten, das rote Zeug wie Lava aus einem Vulkan quoll, war ein guter Tag. Es sollten sehr viel gute Tage werden.

Als Kind verbrachte ich mehr Zeit, alle viere von mir gestreckt in der Horizontalen als aufrecht gehend. Mein Papa hatte vorsorglich Medizin studiert. Er wusste offenbar schon vor meiner Geburt, dass sich sein Studium auch innerfamiliär einmal rentieren würde.

Und während diese seltsame Sehnsucht nach Erdung bei „normalen“ Kindern spätestens in der Pubertät endete, fing’s bei mir erst richtig an. Denn wer in flachen Schuhen zu blöd zum Gehen war, für den stellten Absätze eine wunderbare Herausforderung dar. Eine Herausforderung, die meine Knie regelrecht begeisterte. Ein freier Fall aus luftiger Höhe gestaltete den Aufprall doch um einiges spannender und interessanter.

Als Erwachsene versuchte ich es mit einer List. Ich begann zu joggen. Lustigerweise landete ich beim Laufen nie in der Horizontalen. Joggen funktionierte also. Gehen konnte ich immer noch nicht. Aber meine Knie wären nicht meine Knie, wenn sie nicht auch beim Rennen nach Aufmerksamkeit heischen würden. Nach jeder Joggingrunde beginnen sie zu sudern, zu meckern und zu klagen. Sie schreien förmlich: “Oh, diese Schmerzen! Bitte hilf uns!”

Und so schenke ich ihnen täglich meine Aufmerksamkeit, indem ich sie stundenlang eincreme und massiere.

Ja, die Beziehung zu meinen Knien ist geprägt von Leidenschaft.

Eine Leidenschaft, die Leiden schafft …

© lavoce 2021-06-25

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