Sei ehrlich zu dir selbst

,,Wieso verkriechst du dich jede Pause hier? Vor wem versteckst du dich?“, fragte er mich. Ich saß wie immer alleine auf der Bank vor meiner Arbeitsstelle. Es wurde für mich zur Gewohnheit, alleine zu essen. Ich ziehe mich gerne zurück, bin für mich alleine. Jede Pause bin ich am Lesen. Ziehe mich an einen Fantasieort zurück, an dem ich sein kann, wer ich will und wie ich will. Doch heute hat er sich einfach neben mich gesetzt. Mit seiner Frage gezwungen, dass ich meinen Blick vom Buch abwenden muss. Ich war überrascht, dass mich überhaupt jemand wahrnimmt und ich jemanden auffalle. Auf seine Frage hin zucke ich nur mit den Schultern. „Ich, bin gerne alleine“, antworte ich leise. Sein Blick durchbohrte mich. „Während der Arbeitszeit unterhalten wir uns auch über normale Dinge. Aber sobald es an die Pause geht, verschwindest du hinter deinem Buch. Schottest dich ab. Aber ich sage dir jetzt mal was. Ab morgen wird sich das ändern!“ Mit einem Lächeln stand er auf und ging Richtung Gebäude. Ich war sprachlos. „Was, fällt ihm eigentlich ein, so mit mir zu reden?“, dachte ich mir. Doch insgeheim hat es mir gefallen. Vielleicht habe ich diesen Tritt gebraucht? Am nächsten Tag zur Pausenzeit verfiel ich sofort wieder in alte Muster. Ich schnappte mir mein Buch und war auf dem Weg zur Bank, als mich plötzlich von hinten eine Hand an die Schulter packte. „Du und ich, wir machen jetzt einen Spaziergang. Heute wird das Buch wieder weggepackt“, meinte er bestimmt. Ich lächelte ihn an und konnte nicht anders, als es in meine Tasche zu stecken. „Weißt du eigentlich, wie hübsch du bist, wenn du lächelst?“, fragte er mich. „Du brauchst dich vor niemanden zu verstecken. Du bist ein intelligenter, interessanter Mensch, der bestimmt viel zu erzählen hat. Ich kenne dich jetzt schon länger von der Arbeit. Du bist hilfsbereit, empathisch. Man kann immer auf dich zählen. Mach dich nicht so klein. Komm aus dir heraus, Schulter nach hinten, Kopf nach oben und zeig der Welt, wer du bist“. Kopfschüttelnd sah ich ihn an. Jahrelang habe ich mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen. Niemanden hat es gekümmert und jetzt kommt einfach jemand daher und hält mir so eine Ansprache? Ich nahm jedes einzelne Wort wahr. Verstand, dass er mit jedem Wort recht hatte. Und wusste, dass ich jetzt alles ändern werde. Ich nahm ihn in die Arme. „Danke für deine Ehrlichkeit“, sagte ich ihm selbstbewusst ins Ohr. An diesem Tag wurde er mein bester Freund und heute, zehn Jahre später ist er es immer noch.