selbst denken

Hannah Dollinger

von Hannah Dollinger

Story

Ich starrte meine Tür an, an die jetzt schon zum zweiten Mal jemand klopfte. Wir hatten sie vor ein paar Jahren grün gestrichen. Es klopfte ein drittes Mal. Ich stand auf und öffnete die Tür endlich. Vor mir stand er in seiner üblichen Uniform mit der blauen Krawatte, die nur er tragen durfte. Er schaute mich an, so wie immer. Ich weiß nicht, ob er mich jemals mit weichen Gesichtszügen angeschaut oder jemals Mitleid gezeigt hatte. Ich hakte mich bei ihm ein und wir gingen den unangenehm langen Flur, der nur zu meinem Zimmer führte, entlang.

Ich fühlte mich nicht sicher, hier konnte ich mich nie sicher fühlen. In meinem Zimmer wurde mit Sicherheit vorgespielt, wenn ich dort alleine war, ohne ihn, und auch wenn er nett zu mir war, mir sagte, er freue sich, dass ich bei ihm war. Aber wirklich sicher war ich nie. Ich war aus gutem Grund in dem Raum ganz hinten im Gang, den kaum jemand betreten durfte. Niemand sollte mich sehen, nur wenige wussten, dass ich da war. Manchmal gab er Führungen durch sein Haus, aber niemand durfte meinen Gang betreten.

Mein Begleiter öffnete die große Tür, die den Gang vom restlichen Haus trennte, welche auch immer abgeschlossen war. Direkt gegenüber der Tür war ein Spiegel, der die ganze Wand ausfüllte. Ich sah mich an, wie ich neben dem Mann stand, der mich immer abholte, wieder in einem, fast bodenlangen, wunderschönen Kleid. Er wollte immer das ich schön aussah. Für ihn und nur für ihn.

Langsam gingen wir auf ihn zu, sehen konnte ich ihn noch nicht aber er war in der Bibliothek und bei ihr waren wir schon fast angekommen. Ich wusste nicht, was er von mir wollte. Umso näher wir der Bibliothek kamen, desto stärker wurde meine Angst, vor dem was mir bevorstand. Eigentlich tat er mir nur selten weh, nur wenn er wütend war, weil ich eine seiner hunderten Regeln nicht richtig befolgte. Er war bestimmt wütend, sonst würde er mich nicht zu sich rufen.

Und dann stand ich vor ihm und er fing an, er zählte alle Dinge, auf die ich falsch gemacht hatte, die ich falsch gesagt hatte, wie ich mich falsch bewegt hatte und all die Sachen, die er anders verstanden und falsch aufgenommen haben könnte. Ich wollte weg hier, jeden einzelnen Tag meines Lebens seit einer gefühlten Ewigkeit, wollte ich einfach nur raus um wieder frei zu sein. Frei leben und handeln und meinen und verstehen und denken können.

Aber schon seit Jahren war ich hier eingesperrt.

Eingesperrt in meinem eigenen Kopf.

© Hannah Dollinger 2023-06-20

Genres
Romane & Erzählungen