Der Herbst eignet sich unter anderem wunderbar zum Wandern. Ich finde es gibt nichts Schöneres, als wenn sich das Laub der Bäume endlich in den unterschiedlichsten Gelb-, Orange- und Rotschattierungen zu verfärben beginnt. Dann ist es an der Zeit den Rucksack zu packen und sich, mit Wanderschuhen und Trekkingstöcken bewaffnet, in die nahe gelegenen Wiener Alpen zu begeben. So auch Johann und ich eines frühen Septembermorgens. Strahlend blauer Himmel, sowie eine leichte Brise empfangen uns in Puchberg am Schneeberg, wo wir uns an den Aufstieg des gleichnamigen Berges machen wollen.
Kaum zu glauben, aber Johann gefällt die Idee einer Wanderung. Voller Vorfreude erkundet er den Weg und treibt mich an, ein schnelleres Tempo anzuschlagen. Ein Vorschlag, dem ich gerne nachkomme. Doch schon bald beginnen sich bei mir erste Ermüdungserscheinungen zu zeigen. Weder die makellose Schönheit des herbstlichen Waldes, noch die herrlich blühenden Alpenveilchen am Wegrand, ja, nicht einmal die Aussicht auf eine klassische Schneebergbuchtel* in der Baumgartnerhütte kann mich von meinem Leid ablenken. Zu sehr schmerzt es mich am ganzen Körper.
Durch den stundenlangen Aufstieg haben sich meine Beine in Bleiklumpen verwandelt . Schweiß läuft in Strömen über meinen Körper und der Rucksack scheint mittlerweile eine Tonne zu wiegen. Offenbar habe ich mir zu viel zugemutet, was äußerst seltsam ist, da ich eigentlich recht fit bin. Johann kümmert das alles nicht. Warum auch? Sobald er keine Lust mehr hat neben mir herzufliegen, lässt er sich auf meiner Schulter nieder und wird getragen.
Ein Luxus der mir leider nicht vergönnt ist. »Uff…«, keuche ich daher erschöpft, als er sich wieder einmal auf mich plumpsen lässt. »Also ich verstehe euch Menschen nicht.«, eröffnet der Graupapagei die Konversation, »Warum machst du es dir absichtlich schwer, wenn es doch so viel einfacher ginge?« Offenbar will er mir mit seiner kryptischen Bemerkung irgendetwas mitteilen. Fragt sich nur was?
»Verstehe ich nicht.«, bekenne ich daher äußerst verwirrt. »Ich spreche natürlich von der Zahnradbahn da drüben, die auf den Berg hinauffährt. Statt dich zu quälen und Zeit zu sparen, hätten wir die doch nehmen können. Dann hättest du auch nicht all die Steine schleppen müssen, die ich am Weg aufgesammelt und dir in den Rucksack gestopft habe. Aber glaub mir, dass zusätzliche Gewicht sind sie allemal wert. Jeder einzelne glänzt derart hübsch! Die perfekte Wohnungsdeko.«, erklärt Johann altklug.
»Dienstag. Geschlossen. Immer«, gebe ich im Stakkato wieder. Um grammatikalisch korrekte Sätze zu bilden, bin ich einfach zu erschöpft. »Mag sein. Aber heute ist Mittwoch.« Ich bleibe derart abrupt stehen, dass Johann fast von meiner Schulter fällt. »Und warum zum Teufel sagst du mir das erst jetzt? Und von was für Steinen sprechen wir eigentlich?«
*auch Wuchteln genannt. Eine Süßspeise aus Germteig, gefüllt mit Marmelade.
© Kerstin Steinbrecher 2022-08-04