von scritta
Einige Jahre lang war ich eine brave, aber gelangweilte Hausfrau. Nach zwei stressigen Jahren als Lehrerin wider Willen war es natürlich schön, in die soeben fertiggestellte Wohnung zu ziehen und weitgehend selbstbestimmt zu sein. Ich hatte endlich Zeit für meine dreijährige Tochter, wollte mich viel mit ihr beschäftigen und das noch nicht vorhandene Band zwischen uns knüpfen.
Da mein Mann diese Wohnung gekauft hatte, brauchte er anfangs meinen Lohn, um die noch hohen Raten abzuzahlen und Möbel zu kaufen. Bisher hatten wir bei meinen Eltern möbliert gewohnt. Es herrschte Lehrermangel, und ich leistete jede Menge Überstunden. Meist kam ich erst nach Hause, wenn Niki gerade gefüttert wurde. Danach wollte sie von meinem Mann ins Bett gebracht werden.
Bisher waren er und meine Eltern die Hauptpersonen in ihrem jungen Leben gewesen. Nun wollte ich das Versäumte nachholen. In der neuen Wohnanlage gab es viele Kinder und einen großen Spielplatz. Ein Paradies für meine Tochter! Kein Wunder, wenn sie mittags und abends erst wieder glücklich auftauchte, sobald ihr Papa heimkehrte, und nicht mehr von seiner Seite wich.
Arbeit gab es genug, da Verwandte im Nachbardorf uns ein Stück Land für einen Gemüsegarten überlassen hatten. Dennoch fühlte ich mich unausgefüllt. Ich wollte etwas für mich haben, Mitglied in einem Verein sein, ein wenig geistige Arbeit… Möglichkeiten gab es in R damals herzlich wenige. Den Kirchenchor fand ich fad. Ich wurde zwar freundlich aufgenommen, blieb aber ohne einen Anschluss. So meldete ich mich zum Lehrgang Französisch für Anfänger. Inzwischen hatte ich meinen Führerschein und konnte in die nächste Stadt zum Abendkurs fahren. Für die Kosten hatte ich Nachhilfestunden gegeben.
Nachdem meine Nachbarin Anni von diesem Kurs erfahren hatte, bekam sie Lust darauf und besuchte ihn mit vier Wochen Verspätung ebenfalls. Jeden Mittwoch wechselten wir uns beim Fahren ab. Sie holte bald so weit auf, dass der Rückstand zwar spürbar blieb, sie aber gut mitarbeiten konnte. Ich wusste jedoch nie, ob sie wirklich alles verstanden hatte. Mir schien, auch der Lehrer zweifelte ab und zu daran.
Im Lauf des Kurses fiel mir etwas auf. Anni war völlig unmusikalisch und traf keinen Ton. Ihr Kind hatte sie beim Zubettbringen sogar darum gebeten, mit dem Schlaflied aufzuhören. Französisch machte ihr nur insoweit Schwierigkeiten, als sie manche Wörter einfach nicht richtig aussprechen konnte, etwa avoir besoin (brauchen). Sosehr sie sich anstrengte, es kam immer „besö“ heraus. Beim Erlernen einer Fremdsprache scheint also ein gewisses Musikgehör von Vorteil zu sein.
Einmal ging es um das korrekte Ausfüllen des Antragsformulars für einen Ausweis. Nom, prénom, nationalité und so weiter. Wir Kursteilnehmer saßen uns gegenüber und übten zu zweit. Annis Partner kam zum Punkt ob Männlein oder Weiblein und fragte sie: „Sexe?“ – „Oui!“ rief sie mit heller Stimme und strahlte mit ihren großen blauen Augen in die Runde.
© scritta 2021-12-22