von Markus Grundtner
Ich habe einen Termin, also bin ich jemand – jemand, der spät dran ist. Ich springe aus der Straßenbahn, hetze in Anzug und Krawatte durch die Sommerhitze, hole dabei mein Smartphone heraus, um zu überprüfen, ob ich den richtigen Weg nehme. Ultimativ abgelenkt von allen möglichen Alltagsgefahren riskiere ich aufgrund von Eile, Unkonzentriertheit und eingeschränktem Blickfeld irgendwo dagegenzulaufen oder irgendwo hineinzufallen, kurz, mir aus banalsten Gründen den Hals zu brechen.
Ich zoome auf meinem Telefon auf der Karte herum. Mein Termin ist im Nordbahnviertel. Ich muss nur die Straße entlang, dann durch eine Bahnunterführung und schon gelange ich ans Ziel. Doch ich stecke das Telefon nicht weg. Als wäre es ein Reflex, kann ich den wiederholten Blick aufs Smartphone nicht verhindern, sondern mir nur dabei zusehen, wie ich immer wieder auf mein Telefon starre. Ich komme zur Bahnunterführung, ein Zug braust vorüber, ich sehe vom Display hoch – zur Lärmschutzwand vor den Gleisen – und da fällt es mir auf: Dort oben, sicher fünf Meter über mir, liegt ein Buch, in einem Zwischenraum zwischen der Lärmschutzwand und einer Metallverstrebung. Ich bleibe stehen und sehe genauer hin: Neben dem Bürgersteig reicht aufgeschüttete Erde, von hohem Gras überwachsen, hinauf zur Lärmschutzwand.
Die Person, die das Buch dort oben so hingelegt hat, sodass von unten der Buchtitel auf dem Einband nicht erkennbar ist, hat aber vermutlich keinen Anzug getragen, als sie hinaufgekraxelt ist. Weil ich aber ein Mensch bin, der immer überall nachschauen muss, nicht nur auf dem Telefondisplay, sondern auch hoch hinauf zur Lärmschutzwand einer Bahnunterführung, um in Erfahrung zu bringen, was das für ein Buch sein könnte, beginne ich den Aufstieg über die flache Seite des Abhangs durch das hohe Gras, und bleibe vorsichtig, nicht in ein Loch zu treten oder dorthin, wo das Erdreich locker ist, wodurch ich abrutschen könnte. Ich nähere mich Buch und zugleich mittelschwerem Sturz, komme zur Lärmschutzwand, nur endet der Abhang nicht an der Metallverstrebung, wo das Buch liegt, sondern daneben. Zwischen mir und dem Buch klafft ein Abgrund, darunter wartet der Asphalt des Bürgersteigs auf alle, die sich ungeschickt anstellen.
Der Titel des Buchs bleibt ein Rätsel, ich sehe auch von hier aus nur den zinnoberroten Einband. Der Abgrund ist tief, aber nicht breit, so neige ich mich nach vorne, erwische mit einer Hand den Metallpfeiler, während meine Füße auf dem Abhang bleiben, lehne zwischen Himmel und Erde, und strecke mich mit der anderen Hand nach dem Buch. Meine Finger berühren es, schieben es zuerst weg von mir, ich strecke mich weiter und bekomme es zu fassen. Hier und jetzt, kurz bevor das Erdreich unter meinen Füßen nachgeben und ich stürzen könnte, sehe ich auf den Buchrücken. Ich lese Autor und Titel, lache laut, komme heil den Abhang hinunter und setze den Weg zum Termin fort. Nur, dass ich im Gehen nicht mehr auf mein Telefon glotze, sondern das Buch durchblättere. Es stammt von B. Traven, eine Sammlung seiner „Abenteuergeschichten“. Sie erinnern mich ab nun daran, dass sich im Alltag spannende Gelegenheiten ergeben können, die es wert sind, sich fast den Hals zu brechen.
© Markus Grundtner 2023-12-25