Lieber Bruder

Melissa-Imani

von Melissa-Imani

Story

Es fühlt sich an, als wäre es erst gestern gewesen, als du manch eine*r zum Verzweifeln brachtest mit deinem pipigelben Teletubbie, welches in Dauerschleife sein berühmtes “Tinkie-Winkie, Dipsy, Lala, Po“ vor sich hin trällerte. Du warst so ein liebevoller, sanfter Junge, der kaum still sitzen konnte und bei jeder Gelegenheit auf alle möglichen Oberflächen hämmerte, als wäre die Welt ein einziges Schlagzeug. Als ich dich dann eines Tages mit deinen Kumpels beim Rauchen auf dem Spielplatz erwischte, wusste ich, die Zeiten von Teletubbie und Co. sind nun endgültig Geschichte. Aus meinem unschuldigen kleinen Bruder wurde ein Teenager. Mir war nicht bewusst, welche Gefühle du durchleben musstest in dieser Zeit. Ein Junge, der vom Vater verlassen wurde. Ein Junge, der sich oft einsam fühlte. Ein Junge, der Rassismus erlebte und seinen Kummer im Schreiben von Texten und produzieren von Musik verarbeitete.

Die Kumpels von damals sind noch heute an deiner Seite. Die Kindergesichter wichen den ersten Falten, die sich bereits am Ende der zwanziger abzeichnen. Die Flausen im Kopf machten der Vernunft platz. Aber die Liebe zur Musik blieb. Der Traum, einmal berühmt zu sein, wurde Realität.

Da stehst du nun auf der Bühne. Auf „deiner“ Bühne. Hände strecken sich nach dir aus. Junge Menschen tragen Shirts mit deinem Namen. Und ich stehe in einer Ecke, sehe noch immer der kleine Mensch vor mir, der früher immer gestreichelt werden wollte und den Geschichten von Felix dem Hasen lauschte.

Mit deiner Ausstrahlung füllst du den gesamten Raum und zieht die Menge, die nur deinetwegen hier ist, in den Bann. Die Bühne ist dein Zuhause. Deine Worte sind wie Medizin für deine Fans. Kann es wirklich sein, dass du das bist, den ich in der Zeitung sehe? Dieser einst kleiner schüchterner Junge?

Mutig teilst du deine Gedanken und Gefühle mit der Masse. Du wirst sichtbar. Sichtbar heißt auch angreifbar. Jeder erfüllte Traum hat seinen Preis. Du hast Erfolg gewonnen, aber den Schutz der Anonymität verloren. Du wurdest zur Projektionsfläche. Zur Zielscheibe für die einen. Zum Hoffnungsträger für die anderen. Zum Sprachrohr der Diskriminierten. Zum Gegner der Privilegierten. Aber das Licht, das man in die Welt hinaus trägt, findet immer diejenigen die es suchen.

Ich glaube daran, dass wir alle unsere Aufgabe im Leben haben. Wir alle machen einen Unterschied im Leben eines anderen. Und wenn wir ganz uns selbst sind, werden wir von denen, die uns suchen gefunden.

Ich bin nicht berühmt wie du. Aber vielleicht hat mein Licht der Liebe und Empathie für dich dazu beigetragen, dass du den Mut hast, viele Menschen zu berühren und dich dabei sichtbar und angreifbar zu machen. Wir alle haben die Fähigkeit zu inspirieren. Ob als Nachbar*in durch eine Schuhsammlung im Treppenhaus oder als Künstler*in mit seinen* Werken. Sei du selbst. Sichtbar. Dann finden dich diejenigen, die zu dir gehören.

© Melissa-Imani 2022-11-28

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