Sie ist nicht schön

Lea Rabanser

von Lea Rabanser

Story

Sie betrachtet sich im Spiegel und sie hasst, was sie da sieht. Die große Nase mit dem Hügel, ihre Augenbrauen die keine Form zu scheinen haben und viel zu hell sind, die dünnen Lippen, die zu kurzen Wimpern. Mit ihren zu langen, zu dünnen Fingern berührt sie ihre nach außen stehenden Ohren und drückt sie nach innen. Ihr Haar, es hängt einfach nur nach unten. Glatt, ohne jegliches Volumen. Und ihre Haut, sie ist übersät mit Pickeln.
Dann wandern ihre Augen nach unten, über das große, hässliche Muttermal am Hals, bis zu ihrem Oberkörper. Sie verabscheut ihre breiten Schultern, die viel zu kleinen Brüste, ihren Bauch der nicht flach genug ist, egal was sie macht, und die zu dicken Oberschenkel, die sich berühren. Jetzt wird sie wütend. Und verzweifelt. Und sie wischt die Träne, die über ihre Wange rollt, weg. „Warum sehe ich nicht wie alle anderen aus?“, denkt sie. „Ich bin hässlich.“ „Ich hasse mich.
Ich hasse,
hasse,
hasse mich.“
Sie greift nach ihrem linken Oberarm und zieht an dem Fett. Sie will es wegreisen.
Weg.
Weg.
Sie will nicht sie selbst sein. Sie will ihr Leben nicht mit diesem Gesicht leben. Nicht in diesem Körper.
Sie eifert Schönheitsidealen nach, die unrealistisch sind.
Sie weiß, dass sie unrealistisch sind.
Sie eifert ihnen trotzdem nach.
Ihr Körper ist nicht dafür gebaut, um schön auszusehen, er ist dafür gebaut, um zu überleben.
Sie denkt an ihr Herz, dass immer und immer wieder für sie schlägt, sie am Leben hält. Die Nerven, die die Befehle nach oben und nach unten und links und nach rechts leiten. Sie denkt an die Blutkörperchen, die immerzu auf und ab sprinten.
Es fällt ihr schwer, sich von ihrem Spiegelbild abzuwenden. Sie will nicht aufhören, sich selbst zu kritisieren. Sie will sich bestrafen für ihr Aussehen.
Sie will sich hassen.
Sie will sich zerstören.
Sie will so klein und so dünn wie möglich sein.
Ihre Gedanken drohen sie zu ersticken, also dreht sie sich weg und setzt sich auf den Boden, vor ihre Zimmertür. Ihre Beine eng zu sich gezogen und den Kopf gestützt auf den Knien. Und während sie so dasitzt, nimmt sie sich vor, keine Süßigkeiten mehr zu essen.
Sie will abnehmen.
Sie weiß noch nicht, dass sie es schaffen wird. Sie weiß noch nicht, dass sie im Krankenhaus liegen wird, weil ihre Organe versagen werden. Sie weiß auch noch nicht, dass ihre Schuldgefühle sie übermannen werden, dass es ihr nicht mehr nur um das Abnehmen gehen wird, sondern um die Macht, die Sicherheit, den Stolz und um die Kontrolle. Kontrolle über das, was sie zu sich nimmt und über das was sie nicht zu sich nimmt. Sie wird sich die Nährwerte allerlei Lebensmittel einprägen und sie wird nicht mehr schlafen können, weil sie nur mehr an Essen denken kann, das sie nicht essen wird. Sie wird nicht mehr sitzen wollen, um beim Stehen die Kalorien zu verbrennen, die sie nie zu sich genommen hat. Sie weiß noch nicht, dass sie jemand werden wird, der sie nicht sein will.


© Lea Rabanser 2023-08-23

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