von Martina Süss
Wildes Roman war einer, wie sie ihn noch nie zuvor gelesen. Plötzlich fühlt sie, wie ihre Seele ihre Begierden lauter verlangt, sich nichts zu verwehren gedenkt, den Gelüsten und Sehnsüchten erliegen will, sie spürt, wie die Jugend in ihrem Herzen ihr Recht einfordert und von Vergänglichkeit spricht, von Freiheit, Willkür und Sündhaftigkeit, denn Jugend sei das Einzige, was zu besitzen sich lohnt.
Sie markierte sich wie sonst jene Stellen im Buch, welche sie sich zu merken gewillt war. Als sie diese herauszuschreiben begann, ward die Tatsache ersichtlich, dass es sich ausschließlich um Aussprüche Lord Henrys handelte. Worte gezeichnet von einem zynischen, dekadenten, gewissenlosen Geist mit der Macht, eine junge Seele in ihren Grundzügen zu vergiften. Wenn sie las, was er sprach, so war sie sich bewusst, was es war. Und doch regte sich bereits der böse Keim, welchen er gesät hatte in ihrem Herzen und sprach all dem eine Wahrhaftigkeit zu. Er verführt. Verführt sie mit einer Gewandtheit, welche sie fasziniert. Er, als der Inbegriff der Dekadenz, der Sünde und der Gewissenlosigkeit, wird einem selbst zum Idol, und all das, aufgrund von Eloquenz und Wortgewalt.
Es mag sein, dass jedes Buch Einfluss nimmt auf den Leser, doch meist bemerken wir es kaum, legen das Buch beiseite, ohne eine Veränderung bemerkt zu haben, fühlen uns allenfalls fälschlicherweise klüger. Vielleicht, wenn wir Glück haben, schleichen sich neue Gedanken in unseren stumm gewordenen und doch überfüllten Kopf und hallen wieder an neuen Perspektiven. Und selbst wenn wir es inständig versuchen und uns zwingen, uns zu beschäftigen mit dem Inhalt und der stillen Nachricht der Schrift, so bleibt es immer noch bloß in unseren Gedanken, fern von unseren Handlungen. Was für ein Werk muss es somit sein, wenn es gar eintritt in die Tiefen unserer Taten? Es muss wohl ein Werk sein, welches etwas weckt in uns, das wir gut verborgen geglaubt. Eine Sehnsucht.
Plötzlich verspürte sie einen Durst. Gar Hunger. Einen nie gekannten Durst – als wäre sie ewiglich hungrig gewesen und würde nun diesem Gefühl gewahr. Ganz langsam kam es über sie: Die Worte lockten sie aus der dunklen Höhle, wo sie ihre unerhörte Lust, ihre Gier nach Leben und Empfindung wie wilde Tiere eingesperrt hielt. Weggesperrt, um bestehen zu können in einem System, in welchem Zügelung und Verdrängung notwendig und doch die Triebe schürend wirkt. Dort kroch es heraus, mit krummem Rücken, die Augen vor dem unbekannten Licht verengend, schleppt es sich vor, um ehrlich weinend niederzubrechen vor der Gewalt und Verführung dieser Worte.
© Martina Süss 2021-08-14