von Mareike Wagner
In meinem Kopf wohnt jemand anderes. Ich kann mich nicht erinnern, sie hereingelassen zu haben. Sie hat sich selbst eingeladen. Ich habe sie nicht sogleich bemerkt, denn sie ist schlau und weiß sich zu verstecken. Sie lauert in Gedanken, verbirgt sich in kurzen Pausen, windet sich in die engsten Lücken und klammert sich mit spitzen, kalten Fingern fest. Die Nase stets in der Luft wittert sie jede kleine Schwäche als Chance. Ihr Ziel ist klar: Sie will den Ton angeben, die Steuerung übernehmen, gehört werden. Immer häufiger gelingt es ihr, mir die Kontrolle zu entziehen. Immer länger dauert es, bis ich wieder das Ruder in der Hand halte. Ich weiß bald nicht mehr, an welchen Stellen man uns trennen kann. Sie reagiert auf meinen Namen, blickt mich mit meinen Augen aus dem Spiegel heraus an. Außenstehende nehmen kaum noch Unterschiede zwischen uns wahr. Für viele bin ich nur noch sie. Wer bin noch mal ich und wo fängt Sie an?
Es gab eine kurze Zeit der friedlichen Koexistenz und ich dachte, es könnte so bleiben. Es hätte ein gegenseitiges Geben und Nehmen sein können, eine Stütze und Verstärkung der jeweiligen Stärken, die Überbrückung der Schwächen. Ich weiß nicht mehr, wer den Kampf begann und die Erinnerungen an den Frieden verblassen wie Farben in der Sonne. Wenn sie sich gegen mich stellt, wird sie laut und wütend. Sie weiß zu verletzen und nutzt jede Gelegenheit, um mit wenigen Worten etwas von mir abzuhacken. An vielen Stellen bin ich schon wund von ihren Schlägen, finde keinen Schutz vor ihren Angriffen. Wie mit Klauen reißt, kratzt, zupft sie an meiner Haut und will raus, raus, raus.
Das ewige Ringen um Macht und Stimme ist ermüdend. Es kommt immer wieder vor, dass ich aufgebe, bevor die Schlacht beginnt, nur um meine Ruhe zu haben. Dann ziehe ich mich zurück, schließe mich tief in meinem Kopf ein und überlasse ihr das Kommando. Mit größter Freude randaliert sie in meinem Leben – weist Liebe ab, sorgt für Unmut und dafür, dass andere sich abwenden. Selbstbewusst und selbstversorgend steht sie vor der Welt und verlangt nach ihrem Platz. Ich mache mich klein, will nicht mit ihr gesehen werden, denn sie ist so laut und ich möchte nicht. Ich kann nicht. Durch sie werde ich gesehen und ich möchte nur unsichtbar sein.
Letztens ist sie gegen eine Wand gelaufen, von außen hat man sie in ihre Schranken gewiesen. Müde vom Stark sein, mit eingefallenen Wangen und blutigen Lippen kommt sie zu mir. Verkriecht sich in einer Ecke, mit den Armen schützend vor sich. Ich zögere nur kurz und helfe ihr auf. Stelle sie auf ihre wackligen Beine, tupfe ihr das Blut aus dem Gesicht, streiche ihr die Haare glatt. Sie lässt mich machen, das Vertrauen ist da und groß. Ich schicke sie wieder raus, denn ohne sie bin ich nicht. Der Kampf geht weiter – sie gegen mich, wir gegen die lautstarke Welt.
© Mareike Wagner 2023-05-08