Der Schlüssel war weg. Aria war sich sicher. In der letzten Dreiviertelstunde hatte sie die Nachttischschubladen durchwühlt, den Schreibtisch abgesucht, den Inhalt ihrer Taschen auseinandergenommen, die Laken auf Links und wieder auf Rechts gedreht – doch da war nichts. Keine Spur. Die Arme in die Seiten gestemmt stand sie mitten im Zimmer, Panik stieg in ihr auf. Das durfte doch nicht wahr sein. Dieser Schlüssel war die einzige Möglichkeit, herauszufinden, was Emmanuel hier gewollt hatte. Wie er hier gelebt hatte. Wer er war, wenn er hier war. Wieso er sie so lange angeschwiegen hatte.
Eine Welle der Wut bäumte sich in ihr auf, sie schnappte sich eines der Kissen vom Bett und pfefferte es mit so einer Wucht gegen die Wand, dass das Bild, das dort hing, in Schräglage geriet. Es war eine kitschige Schwarz-Weiß-Fotografie der New Yorker Skyline. Aria starrte auf die schiefe Stadt und ballte die Hände zu Fäusten. Dort hatte Emmanuel immer hingewollt, die Freiheitsstatue hatte ihn besonders fasziniert. „Schon seltsam“, hatte er häufig gesagt, „Sie symbolisiert die Freiheit und kann doch nirgendwo hin.“ – „Das könnte daran liegen, dass es eine Statue ist“, hatte Aria meist trocken geantwortet. Wenn sie doch nur die Gelegenheit hätte, noch einmal, ein einziges Mal nur die Begeisterung in seiner Stimme zu hören, den Glanz in seinen Augen zu sehen, die kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen zu beobachten, während er lächelte. Doch das ging nicht. Es würde nie wieder so sein. Nie. Wieder.
Kraftlos sank sie zu Boden, sie bekam keine Luft und verharrte zwischen zwei Atemzügen, ihr Mund zu einem stummen Schrei geweitet.
Emmanuel.
Der Schmerz türmte sich vor ihr auf, umspülte sie und riss sie mit sich.
Emmanuel.
Die Trauer griff mit schwarzen Pranken in die Tiefe und holte alte Bilder hoch.
Emmanuel.
Die Erinnerungen frästen sich in ihre Hirnrinde. Der Vorhang am Fenster des Schlafzimmers, in dem sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. Frühstück im Bett. Umzugskartons vor einer Hausfassade. Blumen auf dem Esszimmertisch. Kirchentreppen. Sein leerer Schreibtisch im Büro, wenn sie abends länger blieb. Ein Stuhl, der nach hinten kippte, als er im Streit aufsprang. Schweigende Münder. Die Wärme seiner Arme, wenn sie hineinsank. „Emmanuel.“
Sie kletterte ins Bett, kauerte sich zusammen und zog die Decke in ihre Arme. Wiegte sich. Sie schloss die Augen, ihr Körper verlernte, wo oben und unten war, es fühlte sich an, als würde sie in ein immer tiefer werdendes Loch fallen. Als würde die Schwärze sie verschlingen. Sie wimmerte, sagte immer wieder seinen Namen, klammerte sich an seiner Melodie fest als wäre es das einzige, das sie am Leben hielt.
„Emmanuel. Emmanuel. Emmanuel.“
© Angelina Jungmann 2023-08-31