Sieg der Vernunft

Jamal Tuschick

von Jamal Tuschick

Story
In der Gegend von Philippsthal an der Werra im osthessischen Landkreis Hersfeld-Rotenburg

In seinem Herrschaftssitz ließ Opa Marmor verlegen und Buntglassteine vermauern. Der Salon spiegelte die GemĂŒtlichkeit der Zeit. Schöner Wohnen war noch nicht erfunden. Wohnen war eine ernste Angelegenheit. KalendersprĂŒche klĂ€rten auf. Mein Zuhause ist meine Burg. Dem Hausherrn kamen königliche Rechte zu. Die Pantoffeln wurden gebracht.

Die Allmacht des alten Zauberers trieb das Leben in seinen privaten vier WĂ€nden auf die Zehenspitzen. Im Herrenzimmer konnte er die TĂŒr hinter sich zu machen, ohne mit Störungen rechnen zu mĂŒssen. Das war Luxus fĂŒr einen Mann aus dem Volk. Ohne Notenkenntnisse spielte er auf einer Hammondorgel Phantasiemelodien, die sich harmonisch fĂŒgten. Ein Kelim wurde fĂŒr mich zum Spielfeld. Musste Opa aufs Klo, zupfte ich subversiv am Teppich herum. Heute erklĂ€re ich mir das mit einer heimlichen Neigung zur exorzistischen Revanche. Unter lauter Magiern ist jede unerkannte Überschreitung ein Triumph der Vernunft.

Außer Babaanne (Oma mĂŒtterlicherseits), die im Takt der BedĂŒrfnisse ihres Mannes atmete, hatte keiner ein selbstverstĂ€ndliches Eintrittsrecht in Opas Reich. Man klopfte und wurde hereingerufen. Manchmal morgens um drei zum Rapport. Dann donnerte Großvater das Haus zusammen wegen irgendeiner schief gelaufenen Sache. Er machte den Sohn zur Schnecke und zwang die Schwiegertochter in die Duldungsstarre. Mutter erholte sich schnell von jedem Vorwurf ihres Schwiegervaters. Sie widerstand, ohne zu widersprechen. Das GesprĂ€ch der beiden hatte einen eigenen Ton, den man noch vernahm, wenn der alte Zauberer außer sich war. Manchmal brauchte er drei Tage, um sich von einem Exzess zu erholen. Das waren drei Tage, in denen er nicht im Zauberkasten auftauchte.

Zauberkasten ist mein Wort fĂŒr die Fabrik, die Opa einst auf einer struppigen Wiese dicht an der Zonengrenze aus dem Boden stampfte.

Mutter wirkte nach einem Anschiss nicht angegriffener als sonst. Sie erfĂŒllte ihre Pflichten. BeflĂŒgelt versah sie ihren Dienst. Sie war die heimliche Herrin jenes Reichs, das Opa fĂŒr sich geschaffen hatte. Sie empfing ihn, wenn er wieder ansprechbar war, wie einen König, der heimkehrt. Ich glaube, sie wusste es in jedem Fall vorher. Jedenfalls traf er sie stets besonders geschmĂŒckt und aufgerĂ€umt an ihrem Platz. Sie köderte ihn mit einer orientalischen SĂŒĂŸigkeit. Opa schwor auf Lokum, einem Gemisch aus Zucker und StĂ€rke und – je nachdem – mit Granatapfelsaft oder Rosenwasser.

© Jamal Tuschick 2024-03-19

Genres
Romane & ErzÀhlungen
Stimmung
Abenteuerlich
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