Silvester in Heiligensee

Erdmann Kühn

von Erdmann Kühn

Story

Im Dorf Heiligensee ist die Zeit stehen geblieben. In der Mitte der Dorfanger mit der kleinen, alten Dorfkirche. Dahinter die Schmiede. Die Straße aus grobem Kopfsteinpflaster. Hier fahren die Autofahrer langsam, aus purer Angst um ihre Stoßdämpfer. Schräg gegenüber der einzig verbliebene Bauer des Ortes, Löper. Weiter oberhalb die Brücke zwischen dem See und der Havel. In der Mitte der Havel verläuft die Grenze zur DDR. Von Niederneuendorf, dem Dorf gegenüber, guckt nur der Kirchturm über die hässliche Mauer aus Betonplatten mit den Wachttürmen. Er sieht so aus wie der Heiligenseer Kirchturm. Vielleicht sieht es im Dorf hinter der Mauer ähnlich aus wie hier?

Am Tag wirkt alles friedlich, idyllisch. Die träge dahinfließende Havel, die tuckernden Frachtkähne, der Fischer Liptow, der seine Havelfische räuchert und verkauft. Die große Sanddüne am Kiefernhain und die weiten Felder dahinter. Friedel kommt es manchmal wie ein Traum vor, dass er jetzt hier wohnt. Oft sitzt er abends im Garten, alleine, wenn der Himmel sich purpurn färbt über den schwarzen Baumsilhouetten und die kleinen Wellen auf dem See die rote Farbe trinken. Er kann sich keinen schöneren Platz vorstellen als hier, am Ufer des Heiligensees, im verwunschenen Garten des alten Pfarrhauses. Alle Besucher staunen, dass es in Berlin so etwas gibt.

Dem Vater muss es ähnlich gehen. Er ist endlich zu Hause angekommen, hier möchte er bleiben, bis er pensioniert wird. Er mag die einfachen Leute, den Bauern, den Fischer, den Schmied, die Handwerker. Er hat ja selbst Schriftsetzer gelernt und hat sich unter den “Studierten” nie ganz wohl gefühlt. Er liebt die Gespräche mit den Alteingesessenen, die ihm Geschichten von früher erzählen, als die Straßenbahn und die Fähre noch fuhren. Und er wird im Dorf akzeptiert. Die als eigensinnig und stur verschrienen Heiligenseer merken, dass er sie ernst nimmt und mag. Man merkt ihm auf Schritt und Tritt an, dass er dieses Dorf in sein Herz geschlossen hat. Und endlich ist wieder Leben im alten Pfarrhaus mit dem großen Garten am Seeufer, sechs Kinder mit Eltern, Oma und Hund!

Friedel begleitet seinen Vater, als er zum ersten Mal in der Silvesternacht hinübergeht zur Dorfkirche, um die Glocken zu läuten. Erst wenn die Glocken läuten, beginnt das neue Jahr. Erst dann werden hier die Böller und Raketen gezündet und die Schampusflaschen von Lutter und Wegner entkorkt. Das letzte Jahr zieht in einem Augenblick an Friedel vorüber. Die Ankunft hier im Paradies, seine Konfirmation, die schon im Heiligenseer Garten gefeiert wurde. Die Kindheit ist endgültig vorbei. Was jetzt kommt, wird spannend und schön!

© Erdmann Kühn 2022-01-19

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