Similia similibus curentur

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Es war an einem Tag, an dem die Mutti in Linz zu tun gehabt hat. Ich hab‘ sie begleitet. Wir sind zum Baumgartner am Taubenmarkt gegangen und dann zum Knopfkönig in der Mozartstraße. Die Mutti hat einen Haufen Nylonstrümpfe hingebracht, zum Repassieren. Dann sind wir in den E-Wagen gestiegen und heimgefahren. Bei der Neuen Welt hab‘ ich gemerkt, dass die Mutti irgendwie aufgeregt ist. Da war nämlich ein Mann im Waggon. Den hat sie die ganze Zeit angestarrt.

Der schaut aus wie der Vati, flüstert sie mir auf einmal ins Ohr, find’st net a? Und wie der Mann in Kleinmünchen aussteigt, da schnappt mich die Mutti bei der Hand und zieht mich zum Ausgang. Wir steigen auch aus und gehen dem Mann nach. Die Mutti bildet sich ein, es ist der Vati. Aber das kann nicht sein, denn da wär‘ er ja von den Toten auferstanden.

So oder ähnlich fiele der Bericht der 6-Jährigen aus, die ich damals war. Wir folgten dem Mann ein Stück des Weges, doch irgendwann machten wir kehrt und gingen zur Haltestelle zurück, weil es ja sinnlos ist, einem Wildfremden zu folgen, auf Schritt und Tritt. Hier reißt mein Erinnerungsfaden ab. Es vergeht nicht viel Zeit, da lässt sich an dieses Erlebnis ein weiteres anknüpfen.

Eines Tages kommen Mutti und ich an einem Plakatständer vorbei, auf dem ein Politiker abgebildet ist. Die Mutti nimmt mich beiseite und sagt, find‘st net auch, dass der Schleinzer dem Vati ähnlich sieht? Karl Schleinzer übernahm, wie man auf Wikipedia nachlesen kann, 1961 unter Bundeskanzler Gorbach das Verteidigungsministerium. Das Allerweltsgesicht meines Vaters und die Männer, von denen Mutti behauptete, sie sähen ihm ähnlich, das hat mich lange Zeit beschäftigt.

In den 1990er-Jahren, als ich die Schreibwerkstatt Stöbergasse besuchte, wagte ich den Versuch eines längeren Textes. Meine Heldin hieß Sophie.

Sie ist 7 Jahre alt, hat schwarze Locken und zeichnet gern. Ihre Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen. Deshalb wohnt sie bei der Oma, die verwitwet ist. Eines Tages, die Oma hat Sophie gerade vom Hort abgeholt, fahren die beiden mit der Badner Bahn Richtung SCS. Sophie nimmt ein paar Zeichnungen aus der Schultasche, um sie der Oma zu zeigen. Der Mann, der schräg gegenüber sitzt, lächelt amüsiert. Als er aufsteht und den Halteknopf drückt, schnappt Sophie ihre Schultasche und hüpft auch aus dem Waggon. Die Türen schließen. Sophie blickt in das entsetzte Gesicht der Großmutter hinter der Glasscheibe. Für Sophie wird nun ein Abenteuer beginnen, denkt sie. Sie trottet dem Mann hinterher und wünscht sich, er würde sie bemerken, stehen bleiben, sie ansprechen und vielleicht …

Während sie Luftschlösser baut und sich allerhand ausmalt, geht der Mann auf ein rotes Auto zu, das am Straßenrand parkt, und fährt weg.

Ich habe mich damals im Text-Labyrinth von Was-wäre-wenn-Szenarien heillos verrannt. Mir ging es wie Sophie. Auch ich hatte die Spur verloren. So trug ich das Projekt zu Grabe und war erleichtert.

Manuscriptum requiescat in pacem.

© Sonja M. Winkler 2022-02-03

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