von Sonja M. Winkler
Für Sonntag sei eine Tagestour geplant, sagt G., eine Tour mit den wanderfreudigen Engländern. Es kann anstrengend werden. Ob ich mitkomme, fragt G., zur Roza-Schlucht
Schluchten gibt’s auf Kreta zuhauf. Ich erinnere mich an den Sommer 1990. Wir machten Urlaub an der Nordküste, vier alleinerziehende Frauen samt Kindern. Bei sengender Hitze durchwanderten wir die Samaria-Schlucht. Mein Sohn war damals 10 und schlaksig.
Ich komm mit, sag ich. Fein, antwortet G. Fred hat gewhatsappt, 600 Höhenmeter sind zu bewältigen. Wetterbericht ist günstig. Fred, so erfahre ich, ist Engländer, der bei der Air Force gedient hat und später Fahrlehrer war. Er wird den Tour Guide spielen. Fred, der Hahn im Korb, wird sich um uns vier Hennen kümmern, the cock in the henhouse. Ein versierter Guide, beruhigt mich G.
Die Autos parken wir in Gonies. Letzte Stärkung in einem Kafenio. Es geht steil bergauf. Streckenweise ist’s eine Kletterpartie. Felsen in Rosa-Tönen. Kann sein, dass die Schlucht ihren Namen der Farbe des eisenhaltigen Gesteins verdankt. Das hölzerne Geländer weckt kaum Vertrauen. Es ist teilweise morsch, und einige Stehpfosten sind weggebrochen. Hoch über uns ziehen Geier ihre Kreise und kreischen.
Als wir den Unterstand auf dem Plateau erreichen, zeigt Fred auf etwas, das unten in der Ferne dunkelblau glitzert. Ein See. Look, sagt Fred, that’s the water reservoir, an artificial lake, built in 2012. That’s where the sunken city is, but you can’t see it from here. Was Fred andeutet, macht mich neugierig. Sunken city. A village under water. G. hat mir nichts davon erzählt.
Es geht gegen 15 Uhr, als wir zu den Autos zurückkommen. Fred tut geheimnisvoll. Er wird uns zu Sfendíli lotsen. Die Straße führt durch kleine Dörfer. Irgendwann zweigen wir ab und fahren eine geschotterte Zufahrt entlang, im Zickzackkurs, wegen der Schlaglöcher. Vor uns erstreckt sich der glitzernde See, den wir von der Hochebene aus gesehen haben. Und das versunkene Dorf.
Mir fällt das Foto ein, das mir mein Sohn vor langer Zeit geschickt hat. Ein Kirchturm, der aus dem Wasser ragt und heute unter Denkmalschutz steht. Wahrzeichen der Gemeinde Graun. Zwei Dörfer am Reschensee in Südtirol mussten vor 70 Jahren einem ehrgeizigen Staudamm-Projekt weichen.
Das ist den Bewohnern von Sfendíli ebenfalls zugestoßen. Das Dorf wurde 2012 für den Bau eines Staudammes geflutet. Das Reservoir versorgt Heraklion und Agios Nikolaos mit Wasser. Das Gebiet um den See gilt als Touristenattraktion, wegen der Vielfalt an Schmetterlingen und Pflanzen. Aber jetzt ist außer uns niemand hier. Wir tänzeln über Schutt und gestürzte Mauern, alles Grau in Grau, bis auf einige Graffiti da und dort und Farbtupfer. Die pink blühende Bougainvillea. In manchen Häusern sind die Bodenfliesen noch intakt. Am Kirchlein zieht sich eine dunkle Linie über die Seitenwand. So tief stand das Dorf unter Wasser.
Im Wechsel der Jahreszeiten sinken die Häuser und tauchen wieder auf. Geisterstadt.
© Sonja M. Winkler 2022-12-09