von Sabine Steinhoff
Sissy war schwarz und ganz behaart, recht groß für ihr Alter und kugelrund. Ihre Eltern und die Geschwister waren sich einig, dass die kleine Spinne von besonderer Schönheit war. Alle lebten sie im Kinderzimmer von Timo. Er war ein besonders wilder Junge. Dementsprechend war sein Zimmer das herrlichste Tohuwabohu. Gerade im Sommer sah man ihn dort allerdings kaum. Ein ganz herrlicher Ort auch für die Spinnenrasselbande. Hier konnten Sissy und ihre zwanzig Geschwister ungestört in all dem Spielzeug herumklettern und sich am Spinnweben spinnen üben.
Als sie eines Tages so an der Zimmerdecke herumlümmelte, kam Timo herein. Es regnete draußen und er war gelangweilt. Also legte er sich auf sein Bett und sah sich einen Comic an. Sissy war begeistert. Sie mochte den Jungen mit seinen lustigen roten Haaren und den Sommersprossen. Er lag genau unter ihr und sie wurde neugierig. An einem Faden ließ sie sich zu ihm hinuntergleiten. Timo war in seinen Comic vertieft und bemerkte sie nicht. Sie blieb kurz oberhalb seines Kopfes stehen und schaute ihn mit ihren acht Augen an. Durch seinen Atem, fing sie sogar an leicht hin und her zu schwingen an ihrem federleichten Faden. Das fand sie sehr lustig. Durch ihre Bewegungen bemerkte Timo irgendwann, dass da etwas schwarzes über ihm baumelte. Erstaunt schielte er hoch und im nächsten Moment bekam er einen Riesenschrecken. Er sprang unvermittelt aus dem Bett und schrie im schrillsten Ton los:
„AHHHH! IHGITT! EINE SPINNE! GEH WEG!“
Timo hatte nämlich ziemlich Angst vor diesen schwarzen ekeligen Dingern mit acht Beinen. Auch Sissy hatte sich fürchterlich erschrocken. In Windeseile schoss sie an ihrem Faden wieder zurück zur Decke und versteckte sich schnell. So hatte sie es bei ihrer Lehrerin gelernt. Mit klopfendem Herzchen und bitter enttäuscht saß sie in ihrem Versteck und schaute Timo zu, wie er da unten starr vor Schreck stand und die Decke nach ihr absuchte. Bisher dachte sie, sie war wunderhübsch. Warum hatte er das Geschrien und warum fand er sie nur ekelig? Aus ihrer Angst wurde Wut. Sie mochten diesen Jungen nun nicht mehr und schwor sich, ihn zu erschrecken, wo sie nur konnte. Also ließ sie sich immer wieder an einem Faden herab, um ihn wieder und wieder zu überraschen. Und jedesmal, wenn er panisch losschrie, lachte sie ihn aus.
Doch mit der Zeit gewöhnte sich Timo an Sissy. Er fand sie langsam gar nicht mehr so hässlich und irgendwie sogar witzig, wie sie ihm immer wieder auflauerte. Wenn er eine Spinne wäre, würde er bestimmt dasselbe tun. Er wollte immer einen Hund haben, durfte aber nicht. Also war diese kleine, freche Spinne jetzt halt sein Haustier. Als Sissy eines Tages etwas unachtsam an seinem Schreibtisch herumkletterte, geschah es. Timo blieb ganz still sitzen und schaute ihr einfach nur zu. Als Sissy ihn bemerkte, schauten sie sich schon direkt in die Augen. Er lächelte sie an und nach dem ersten Schrecken spürte sie, dass sie Freunde geworden waren und er ihr nichts tun würde.
© Sabine Steinhoff 2021-07-26