Wir haben eine lange Fahrt vor uns. Auch wenn es von Madurai im südlichen Indien nach Kodaikanal nur etwa 120 km sind, werden wir mit dem altersschwachen Bus der katholischen Sozialstation mehr als einen halben Tag unterwegs sein. Aber dadurch ist endlich Zeit, die verwirrenden Eindrücke mit unserem Freund und Begleiter Selva Raj zu besprechen.
Wir waren gemeinsam unterwegs mit den Dalits, wie sich die sogenannten „Kastenlosen“ oder „Unberührbaren“ selbst bezeichnen. Und ich bin immer noch verwirrt, dass dieses archaische Kastensystem im 21. Jahrhundert ungebrochen fortbesteht, das soviel Leid durch Ausgrenzung und Ausbeutung bringt. Und das täglich! Dieser Kampf für die Rechte der Dalits gleicht einer Sisyphosarbeit.
„Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ heißt es bei Camus und damit konnte ich noch nie etwas anfangen. Selva bewegt seinen Kopf, als wolle er eine querliegende Acht in die Luft zeichnen, was in Südindien gleichbedeutend ist zu einem zustimmenden Kopfnicken. Wir lachen über meine interkulturelle Dummheit als ich ihm erkläre, dass ich dieses Zeichen anfangs als Kopfschütteln und damit als Ablehnung gedeutet hatte.
Selva erzählte, dass eine ähnliche Geschichte in Indien erzählt wird. Die Legende berichtet von Naranath Branthan, der ebenso wie Sisyphos einen Felsbrocken immer wieder auf den Berg schiebt, um sich dann am Gipfel allerdings riesig zu freuen, wenn er wieder ins Tal zurückrollt. Zum gleichnamigen Berg im nahegelegenen Bundesstaat Kerala pilgern daher die Menschen zum „Madman of Naranam“, den sie als Heiligen verehren. Und Selva faßt kurz zusammen und meint, es sei auf jeden Fall besser über die Absurdität des Lebens zu lachen, als an ihr zu verzweifeln.
„Nun, Camus hat es sicher ganz anders verstanden.“ versuche ich den europäischen Existenzialismus zu erklären, während wir auf den staubigen Straßen Südindiens unterwegs sind. Der Mensch revoltiert gegen die Sinnlosigkeit des Daseins, in dem er dennoch die Herausforderung annimmt. Für ihn ist das Leben absurd, da wir immer an der Spannung leiden zwischen der Sinnlosigkeit des Lebens und unserem gleichzeitigen Wunsch, unserer Existenz Sinn zu verleihen. Es bleibt uns die Freiheit zu handeln, auch wenn der große Plan nicht aufgeht und das Ziel nicht erreicht wird. Sartre hat es dann in einem Satz zusammengefasst: „Wir sind zur Freiheit verurteilt!“
Nun widerspricht Selva ebenso entschieden wie lachend und verweist auf das christliche Verständnis: Die Formulierung des Paulus im Galaterbrief sei ihm dann doch sympathischer: „Ihr seid zur Freiheit berufen!“und so beendet er unseren Austausch, um bei einer Rast Tee zu trinken. Als er meine melancholische Nachdenklichkeit bemerkt, fügt er hinzu: „Wenn Du magst, können wir auch mal rüberfahren zum Berg des „Madman of Naranam“ und herzlich über die Absurdität des Lebens lachen. Das tut gut und man kann am nächsten Tag wieder zu Arbeiten anfangen.“
© Siegfried Grillmeyer 2022-05-02