von Schlisa
Als ich klein war, gab es mal ein Bild. Es hing in dem Wintergarten meiner Großeltern und obwohl dort noch viele weitere hingen, war dieses mein Liebstes. Es war etwas kleiner als DIN-A4 und gerahmt in einem rahmenlosen Bilderrahmen aus Glas. Farblich war es Sepia bis leicht rosa, wobei ich mir nicht sicher bin, ob das der originale Farbton war. Vermutlich war es einfach sehr ausgeblichen von der Sonne, schließlich hing es dort auch schon einige Jahre. Es zeigte den Eingang zu unserem Garten, die großen weißen Tore waren komplett geöffnet und in der Mitte befand sich unser alter Hund. Er streckte sein Hinterteil gen Himmel, als würde er das, was sich vor ihm befindet, zum Spielen auffordern. Was er aber ganz sicher nicht wirklich tat, denn vor ihm befand sich ein Skorpion. Ein leibhaftiger Skorpion. Es erschien mir surreal und ich denke, das war der Grund, warum mich das Foto als Kind so fesselte und seitdem auch nie losgelassen hatte.
Bis heute klingen mir die Worte meiner Mutter im Ohr, wenn ich an das Foto denke: „Und das war komisch, denn Skorpione gibt es ja gar nicht in Deutschland!“. Denn auch sie konnte sich in dem Moment, in dem das Foto geschossen wurde, nicht erklären, was sie dort sah. Es mag seltsam klingen, aber ein und dieselbe Interaktion mit meiner Mutter hatte ich beinahe jedes Mal, wenn wir uns das Foto gemeinsam im Wintergarten ansahen. Man könnte also wirklich sagen, dass dieses unscheinbar wirkende Bild einen großen Teil meiner Kindheit und auch Jugend einnahm. Selbst Jahre später, als meine Großeltern bereits verstorben waren und wir nicht mehr in dem Haus wohnten, sprachen meine Mutter, meine Schwester und ich sehr häufig über dieses Foto. Und in solchen Momenten fiel auch immer dieser eine Satz von meiner Mutter, so als könnte sie nicht anders, als immerzu noch zu erwähnen, wie skurril doch diese festgehaltene Situation damals für sie war. Bis zu dem Tag, als das Bild aufhörte zu existieren.
„Spinnentier mit Giftstachel, 8 Buchstaben …“ Meine Mutter rieb sich das Kinn. „Ach natürlich, Skorpion! S-K-O-R-P-I-O-N, passt.“ Ohne weitere Umschweife setzte sie ihre Wortsuche fort, doch ich wollte mir diese Gelegenheit nicht nehmen lassen. „Apropos Skorpion.“ amüsiert schaute ich zu meiner Schwester rüber, welche sich das Lachen kaum verkneifen konnte. „Das erinnert mich an den Skorpion, den wir früher mal im Garten hatten.“ „Ja da musste ich auch direkt dran denken“ kam es prustend aus ihr heraus. „Welcher Skorpion?“ meine Mutter schien ehrlich keine Ahnung zu haben, was wir meinen. „Hä Mama, wir hatten doch dieses Bild mit Lina und dem Skorpion im Wintergarten hängen.“ „Ihr wollt mich verarschen, ich sehe doch wie Melissa lacht.“ „Mama, weißt du das echt nicht mehr?“ Mein Herz wurde schwer. Entgeistert sah ich zu meiner Schwester rüber, der das Lachen im Halse stecken geblieben war. „Warum hätte denn bei uns im Garten ein Skorpion sein sollen? Die gibt es in Deutschland doch überhaupt nicht.“ „Genau das hast du uns früher auch immer gesagt, als wir uns das Bild angeguckt haben!“ Doch es war zwecklos, die Erinnerung an den Skorpion existierte nicht mehr in ihrem Kopf. Und bis heute ist meine Mutter überzeugt, das alles sei nur ein blöder Scherz.
© Schlisa 2023-09-11