Smalltalk der Körper

von Jamal Tuschick

Story
In der Gegend von Philippsthal an der Werra im osthessischen Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Von der Mimikry zur Mimese – Wer zu schwach, zu langsam oder zu unflexibel ist, darf nicht erst flüchten müssen, sondern muss schon (vor jedem Angriff) geflohen sein. Totale Vulnerabilität erfordert die Minimierung der Angriffsflächen in Verstecken. Das Hochamt in dieser Kirche des Überlebens ist die Unsichtbarkeit bei voller Präsenz. Man sitzt da, kann vom Feind aber nicht wahrgenommen werden. Das passiert, wenn die Tarntracht mit ihrem Hintergrund verschmilzt. Dazu gehört „die hohe Kunst des Farbwechsels“ (Axel Buether). Menschen praktizieren den Farbwechsel mit ihrer Kleidung. Sie liefern ihrer Umwelt Aufstiegs- und Abstiegsmarken.

Adem wittert eine Verschwörung. Seit zehn Minuten steckt sein Vertriebschef Morgan Freilich in einer Konspiration mit der Flüchtlings- und Fremdenverkehrskoordinatorin vor dem Café Arkana. Therese Gerster ist eine Nichte der Bürgermeisterin Sarah G. Im Rathaus residiert sie auf der Chefetage. Therese organisiert die Kraichhainer Filmfestspiele und kuratiert die Ausstellungen in der Bahnhofsgalerie. Ihr Hochmut fragt nicht nach den Erwartungen des Steuerzahlers. Zurzeit mutet sie Kraichhain Arte Povera von Michelangelo Pistoletto zu. Adem möchte nicht wissen, was das kostet, einschließlich der Versicherungen. Er traut Therese, in seinen Augen ist sie eine Hexe, alles zu, auch dass sie Kunst abgreift und in der Besenkammer neben dem Heimatmuseum hortet, dass ein Ahne der amtierenden Gerster unter dem Rathausdach in zwei Räumen einrichten ließ. Adem stellt sich Therese und Morgan in der Besenkammer vor – Honoratioren beim Smalltalk der Körper zum Bolero in einer Aufführung des Londoner Symphonieorchesters und der Deep Purple.

Der Gerster-Klan hält das Rathaus besetzt. Man ist CDU im Geist der CSU. Der Freistaat fängt vor der Tür an und färbt schon ab. Rechts von der Kraichhainer CDU beginnt eine menschenleere Öde. Auch die vorgeblich linksdrehende Therese löckt nicht wider den Sippenstachel. Politische Differenzen sind Dekor, wenn sich die Machtfrage stellt. Ein unverbrüchlicher, von Einfallsreichtum getunter Familiensinn, bestimmt alle Gerster. Was Therese von der christdemokratischen Karrieristin auf dem Thron trennt, steht in keinem Parteibuch.

Therese wringt ihr Haar. Adem ist nicht sicher, ob er eine Geste der Verzweiflung beobachtet, oder, ob Therese wie Rapunzel für Morgan ihr Haar herunterlassen möchte. Morgans geistige Hartleibigkeit macht Therese zu schaffen. Die Caféchefin gesellt sich zu den Verschwörern. Sina war in Fulda auf dem Domgymnasium, während die spätere Koordinatorin im Betrieb eines Onkels Werkzeugmacherin lernte. Ja, Therese ist zwar eine Intellektuelle, aber keine Akademikerin.

Adem richtet seine Antennen aus. Sina, Therese und Morgan reden über den Zauberkasten. Morgan soll Adem empfänglich machen für Thereses Wunsch, Aleko-Schuh in ein Auffanglager zu verwandeln. Adems Empörung erzwingt einen kindlichen Trost. Er kehrt zur Isola Bella zurück und nimmt zwei Kugeln Stracciatella von Nonna Montana persönlich entgegen. Sie herrscht mit den Eigenschaften eines Greifvogels. Ihre Enkel sind weich und bequem, sieht man von Luca ab.

© Jamal Tuschick 2024-04-25

Genre*
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich
Hashtags
Magie, Migration, Landlust, Provinzpower