von Klaus Schedler
„Der Tag, an dem die Musik starb.“ Was für ein phantastisches Lied. Ich hatte es schon sehr lang nicht mehr gehört und nun war es wieder im Radio gespielt worden: Don Mc Leans melancholische Ballade aus den frühen 70ern. Und in voller Länge von 8 ½ Minuten. Das Lied erzielte vor 50 Jahren Spitzenplatzierungen in den Charts. Eigenartig, dass ich bislang nicht genau wusste, worum es in dem Text ging. Ich beherrsche zwar Englisch und mir war klar, dass Mc Lean da etwas Autobiographisches sang. Aber da waren oft mir unbekannte Schlagworte oder Begriffe, die symbolhaft für vieles stehen konnten. Nun aber ließ mich das Lied nicht mehr los und so versuchte ich nach 50 Jahren mit einigem Nachdenken, den Text für mich zu entschlüsseln.
Als Ergebnis ist eine möglicherweise recht eigenwillige und jedenfalls subjektive Interpretation herausgekommen. Zum ersten Mal stirbt die Musik 1959 mit dem Tod von Buddy Holly, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Freilich ein Einschnitt in der Geschichte des Rock ’n’ Roll. Mc Lean war damals grad mal 14 Jahre alt und er empfand diesen Tod anscheinend als mächtigen Dämpfer seines bisherigen Lebensgefühls, seiner Hoffnungen und Erwartungen. Die Ballade endet 1969 mit dem mehr als schrecklichen Mord eines jungen Afroamerikaners durch ein Mitglied der „Hells Angels“ Motorradgang, während des Rolling-Stones Auftritts beim Altamont Free Concert. Die dazwischen liegenden Ereignisse umfassen eine ganze Reihe mehr oder weniger großer Ernüchterungen und Enttäuschungen des jungen Heranwachsenden.
Nachdem ich dies soweit aufgearbeitet hatte, versuchte ich mich in die Rolle Mc Leans zu versetzen. Klar, seine Kindheit und früheste Jugend verbrachte er in der bunten Welt des „Amerikanischen Traums“. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte auch in meiner Kindheit bei uns eine vollkommen unkritische Wirtschaftsentwicklung ein, die die Welt glauben machen wollte, dass Reichtum für alle Menschen erreichbar ist, wenn sie nur wollten.
Der mit dem Rock ’n’ Roll in den 50ern und frühen 60ern zum Ausdruck gebrachte Protest, deutet erste Skepsis und Kritik der Jugend an diesem naiven Wachstumskonzept an. Natürlich erinnern wir uns an die US-Bürgerrechtsbewegung, die Ermordung Martin Luther Kings, den Vietnamkrieg, die mit der Flower-Power-Bewegung erfolgte Flucht vor einer politischen Verantwortung. Natürlich auch bei uns in Deutschland, Österreich und Europa: Eiserner Vorhang, Ungarn-Aufstand, Kalter Krieg, Wiederbewaffnung, zögerliche Entnazifizierung, Mauerbau, NATO Nachrüstung, Prager Frühling, Umweltverschmutzung, Pandemie. Mit anderen Worten: Sowohl im persönlichen als auch gesellschaftlichen Bereich hat es immer wieder Ereignisse und Tage gegeben, an denen die Musik starb. Auch bei uns. Bis heute.
© Klaus Schedler 2022-06-16