Ich geh von der Waage runter und freu mich.. Brav bin ich. Vor 2 Jahren waren´s immerhin noch 35 Kilo mehr. Wer sagt´s denn. Ich zieh meinen Pyjama aus, weil ich gleich duschen will und mein Blick bleibt am großen Spiegel hängen. Da muss ich jetzt glatt mal genauer hin schauen.
Da wo früher ein üppiges Doppelkinn wackelte, ist heute keines mehr zu sehen. Ich trete näher an den Spiegel. Bewegte den Kopf links, rechts, rauf und runter. Da sind irgendwie Falten am Hals. Also nicht generell. Nur wenn ich den Kopf in dieser einen bestimmten Position halte. Ein Überbleibsel des Doppelkinns. Na gut, aber so wie jetzt grade halte ich den Kopf eh nie. Schaut auch irgendwie anatomisch nicht richtig aus. Als hätt ich einen Schlaganfall. Aber trotzdem, diese Hautfalten …
Mein Blick geht über meinen Hals weiter hinunter. Die Schlüsselbeine stehen raus. Gefällt mir nicht. Ich mag keine Knochen. Aber es hilft nix, ob ich das will oder nicht. Jetzt sinds halt da, die Knochen. Und stehen da raus.
Mein Blick geht weiter runter zu meiner Oberweite. Schon mit 35 Kilo mehr auf den Rippen nicht gerade mit üppigem Busen gesegnet, ist der jetzt mit der Gewichtsabnahme um noch eine ganze Größe geschrumpft. Also, quasi nimmer da. Blöd eigentlich.
Mein Blick wandert weiter runter. Irgendwie fehlt da was. Da wo eigentlich bei Frau eine Taille sein sollte, geht es einfach gerade runter. Wie bei einem Schrank. Die feminine Kurve fehlt. Ich drehe mich vor dem Spiegel zur Seite und begutachte die kleine Wölbung des Bauches. Der Depp ist immer noch da. Gewichtsabnahme, Training, tausende Situps, aber die Wampe bleibt. Grummel.
Mein Blick geht weiter hinunter zu meinen Oberschenkeln. Ja, die sind eigentlich OK. Außer … ich schau genauer in den Spiegel … sind das etwa Mini-Reiterhosen? Wo kommen die her? Die hab ich noch nie gesehen. Ich drehe mich um und begutachte meinen Hintern. Die Form ist ja ganz ok, aber da, diese Dellen. Cellulite. Hmpf.
Ich stelle mich wieder gerade vor den Spiegel. So viel Arbeit, so viel abgenommen, aber trotzdem irgendwie nicht so wie ich mir das gedacht hätte. Mein Plan wäre 90-60-90 gewesen. Ist aber eher so 75-80-95 geworden. Statt femininen Kurven mehr so die Silhouette eines Schranks. Nur halt mit Bauch. So hab ich mir das nicht vorgestellt.
Die Badezimmertür öffnet sich. „Ach, da bist du. Was machst du da?“, fragt mein Freund, als er mich vor dem Spiegel sieht. „Mich anschauen.“, antworte ich. „Aha. Und?“, fragt er. „Naja.“, sag ich. Er weiß eh, dass ich nie zufrieden bin. „Du bist perfekt genauso wie du bist. Das warst du in den letzten 9 Jahren und bist es auch jetzt.“, sagt er. Ich schau noch mal in den Spiegel. Also eigentlich… Ich lächle mein Spiegelbild an und beschließe, dass mein Freund Recht hat. Er ist nämlich ein sehr kluger Mann. (Manchmal) Scheiß auf 90-60-90. Ich bin zufrieden, Baucherl, Dellen und Falten hin oder her. Ich bin perfekt, genauso wie ich bin.
Bild: Unsplash, Liana Mikah
© Melly Schaffenrath 2020-05-29