von Ulrike Sammer
Antoine de Saint-Exupery hat ein spezielles Gebet geschrieben: Ich bitte nicht um Wunder und Visionen, Herr, sondern um Kraft für den Alltag. Lehre mich die Kunst der kleinen Schritte. Lass mich erkennen, dass Träume nicht weiterhelfen, weder über die Vergangenheit, noch über die Zukunft. Hilf mir, das Nächste so gut wie möglich zu tun und die jetzige Stunde als wichtigste zu erkennen. Bewahre mich vor dem naiven Glauben, es müsste im Leben alles glattgehen. Schenke mir die nüchterne Erkenntnis, dass Schwierigkeiten, Niederlagen, Misserfolge und Rückschläge eine selbstverständliche Zugabe zum Leben sind, durch die wir wachsen und reifen.
Diese sehr weisen Worte helfen uns vielleicht, wenn wir ungewollt verlieren, was für uns in der Vergangenheit selbstverständlich war. Gerade in den allerletzten Jahren werden sehr viele Menschen vom Fortschritt regelrecht überrollt. Ob es darum geht, den Videorecorder zu programmiere oder mit dem neuen Computer zurechtzukommen – viele (vor allem die Älteren) haben das Gefühl in einer Dauerprüfung zu stehen. Das Leben wird immer komplizierter, weil der Fortschritt nicht mehr eine Domäne der Wissenschaft und Forschung ist, sondern kräftig in unserem Alltag Einzug hielt. Ob es sich nun um die Inhaltsstoffe von industriell gefertigten Nahrungsmitteln, um den Beipackzettel von Medikamenten oder die umfangreiche Bedienungsanleitung irgendeines Gerätes handelt – überall ist intensives Studium, Wissen diverser Fachausdrücke und kraftraubende Entscheidungen in kleinsten Detailfragen gefordert.
Ich wünsche mir manchmal eine alte Bergbäuerin zu sein, an die alle diese Anforderungen nicht gestellt werden. Sie sitzt ruhig auf der Bank vor dem Haus und sieht der Sonne beim Untergehen zu. Die neuen Technologien wecken vor allem bei jener Altersgruppe, die den spielerischen Umgang damit noch nicht automatisch „mitbekamen“ (also auch bei mir), durchaus Ängste. Ich fühle, wie mir die Kontrolle über mein Leben entgleitet. Warum geht das alles nur so schnell? Und wie läuft es ab? In rasender Geschwindigkeit, nämlich in exakt 120 Millisekunden reagiert das Stammhirn auf alles Neue. Dieses Stammhirn ist jener primitive, instinktgesteuerte Gehirnteil, der schon unseren Vorfahren vor hunderttausenden Jahren gute Dienste geleistet hatte. Er entzieht sich den nüchternen Überlegungen und signalisiert dem Körper, dass möglicherweise Gefahr droht. In einem weiteren Sekundenbruchteil wird die Gefahr abgeschätzt und bewertet. Diese Klassifikation ist ausschlaggebend, wie stark reagiert werden soll. Das Gehirn weiß nun intuitiv, welche Mengen an Stresshormonen ausgeschüttet werden sollen und welches Abwehrprogramm „eingeschaltet“ wird. Das alles geschieht noch bevor die Gefahr klar ins Bewusstsein gelangt ist: Stresshormone, allen voran Noradrenalin werden ausgeschüttet. Gleichzeitig wird das Serotonin-System im Gehirn aktiviert. Die innere Spannung, aber auch die Aufmerksamkeit werden dadurch erhöht. Das ist in den Genen so angelegt! Alles Neue bedroht möglicherweise das Überleben und daher ist es durchaus sinnvoll, ihm mit Vorsicht zu begegnen. Je nach Ausmaß der Veränderung kann sich die Skepsis aber auch zu einer Angst auswachsen.
© Ulrike Sammer 2023-09-08