von Valentina
Jahrelang schon träumte ich von IHM, ich, eine ständig Suchende. Immer wieder hielt ich nach IHM Ausschau, denn mir war gewiss, ER sollte anders sein als die anderen, ER sollte etwas Besonderes darstellen.
So bin ich auch an jenem schicksalhaften Freitag unterwegs, scheine etwas verloren unter den wenigen Touristen, die sich zwischen aufgeheiztem Gemäuer durch die Hitze der Altstadt zwängen. Mir ist es kaum möglich, klare Gedanken zu fassen und so betrete ich das nächstbeste Geschäft, nicht um etwas zu kaufen, alleine um mir im kleinen klimatisierten Laden etwas Abkühlung zu verschaffen.
Der kompetente junge Verkäufer wittert seine Chance und bietet mir freundlicherweise ein Glas Wasser an, nachdem ich es mir auf dem kühlen, schwarz gepolsterten Ledersofa gemütlich gemacht habe. Schnell kommen wir ins Gespräch, Alltagsfloskeln, allerlei Banalitäten …
Der Anstand gebietet es, den Gesprächspartner anzusehen, das ist mir bewusst. Doch meine Augen sind längst nicht mehr dort, wo sie sein sollten. Sie haften nicht an meinem freundlichen Gegenüber, sie haften vielmehr an IHM, an seiner Silhouette, die wie verloren in der hintersten Nische des Ladens ruht.
Ich führe erst meine oberflächliche Unterhaltung weiter, doch mit jedem meiner Worte scheine ich mich mehr und mehr zu verlieren, schließlich fokussieren sich meine Gedanken nur noch auf IHN. Meine Augen fixieren IHN. Er dürfte mein Jahrgang sein.
Langsam erhebe ich mich, bewege mich bedächtigen Schrittes auf IHN zu, vergesse alles um mich. Wie lange habe ich diesen Augenblick herbeigesehnt, wie viele Stunden, Tage habe ich in den letzten Jahren nach IHM gesucht. Und nun steht ER vor mir, hat offensichtlich auf mich gewartet in diesem kühlen Zufluchtsort, dem Antiquitätenladen am Dom.
Vorsichtige erste Berührungen, jetzt weiß ich, dass ich in IHM den Richtigen gefunden habe, IHN nie wieder loslassen würde.
Und wie jeder von uns, hat auch er seine Geschichte, die ich anhand winziger schmaler Risse und Furchen auf seiner Oberfläche nur erahnen kann. Genau das macht IHN für mich noch reizvoller.
Seit jenem Freitag sind viele Monate vergangen, heute ist unser Jahrestag.
Heute muss ER sich nicht mehr verstecken hinter altem Mobiliar. ER hat einen wunderbaren Platz in meinem Wohnzimmer gefunden.
Beinahe jeden Tag setze ich mich zu IHM, zu meinem 60 Jahre alten Sekretär, und beinahe jeden Tag schreiben wir gemeinsam unsere Geschichten, die vielleicht einmal GESCHICHTE werden.
© Valentina 2019-07-12