Auf dem Dorfplatz stand eine Laterne, doch ihr Licht hatte noch nie gebrannt. Die Techniker hatten schon alles versucht. Sie hatten die Kabel getestet, die Birnen ausgetauscht und die Fassung gereinigt, doch nichts half. Die Laterne an dieser Stelle des Platzes vertrieb nicht die Dunkelheit der Nacht.
Die Alten des Dorfes hatten eine ganz eigene Idee. Sie erzählten, dass an der Stelle, wo die Laterne stand, vor ungefähr dreißig Jahren ein Kind gestorben sei, aber man dessen Mörder nie gefunden hätte. Seit dieser Zeit würde an dieser Stelle kein Licht mehr scheinen. Doch auf die Alten hörte man sowieso nicht, sie erzählten viele Geschichten. Manche traurig manche schön, aber alle so lange her, dass die wie Märchen klangen.
So blieb das alles so, wie es immer war, bis auf den Abend – es war im Mai – als der alte Jupp des Bauern Krämers zu der Laterne kam. Er hatte sich in der Dorfschänke betrunken, so wie er das schon immer getan hatte, doch in dieser Nacht hatte er es übertrieben und wurde erst als letzter vor die Tür gesetzt. Torkelnd führte ihn seine Schritte über den Dorfplatz. An der Laterne blieb er stehen, lehnte sich an, damit seine Welt aufhört, sich zu drehen. Etwas säuselte in der Dunkelheit. Er meinte eine Kinderstimme zu hören.
„Laterne, Laterne. Sonne, Mond und Sterne.“
Er drehte sich um, doch er war alleine. Angst überkam ihn, er hatte das Lied schon mal gehört. An eben dieser Stelle vor dreißig Jahren. Er wollte fort, doch er konnte nicht. Etwas hielt ihn fest. Er konnte sich kaum noch bewegen. Ihm war, als ob ihn etwas gefangen nahm. Sich wie eine zweite Haut um ihn schloss und seine Bewegungen erstickte. Er hörte wie sein Herz immer langsamer schlug, bis er nichts mehr hörte, bis auf das Kinderlied:
„Laterne, Laterne. Sonne, Mond und Sterne.“
„Brenne auf mein Licht, Brenne auf mein Licht.“
„Aber nur meine kleine Laterne nicht.“
„Laterne, Laterne…….“
Seit dem Tod des alten Jupp brannte die Laterne wieder.
© Andrew_Schlagweizen 2022-11-18