Sonnenschein-Chromosom

Vor Jahren wurde ich von einem heimtückischen Virus im wahrsten Sinne des Wortes niedergestreckt und fand mich bald im Krankenhaus wieder. Das Zimmer teilte ich mit einer liebenswerten älteren Frau, die am Tag zuvor eine Darmoperation hinter sich gebracht hatte.

In den ersten beiden Tagen schwebte ich noch halb im Delirium und bekam von meiner Umwelt nicht unbedingt viel mit. Aber tags darauf besserte sich langsam mein Zustand und die Frau wurde von ihren drei Söhnen besucht. Die beiden älteren hatten es ziemlich eilig und waren danach auch nie wieder von mir gesehen. Der dritte, jüngste im Bunde war anders.

Sofort nach der Arbeit, er jobbte in einer Werkstatt, packte er seine Sachen, ging noch kurz bei einer Trafik vorbei, um seiner Mama ihre geliebte Rätselzeitschrift zu besorgen, und machte sich auf zu uns ins Krankenhaus.

Als er das erste Mal unser Zimmer betrat, warf er mir ein verschmitztes Lächeln zu, zwinkerte mich aus seinen wunderschönen, blauen Augen schelmisch an und meinte zu mir und seiner Mama: „Hallo, die wunderschönen Damen!“

Der Junge strotzte nur so vor Charme, Esprit und Witz. Alles, was ich an Männern mochte. Ich war schockverliebt.

Behutsam setzte er sich zu seiner Mama, gab ihr zwei Schmatzer auf die Wangen und umarmte sie, als ob er sie nie mehr loslassen wollte. Ich war fast ein bisserl neidig. Dann legte er sich zu ihr ins Bett, als ob es das Normalste der Welt wäre und begann mit ihr Rätsel zu lösen. Jetzt fraß mich endgültig der Neid. Und dabei mochte er Rätsel nicht mal, wie er mir später anvertraute. Er las lieber die Fernsehzeitung. Mann halt. Von vorne bis hinten und hinten bis vorne und das Ganze wieder retour. Bis er sämtliche Sendungen der Woche auswendig konnte. Jeder hat so seine Spleens.

Zwischendurch grinste er immer wieder kurz zu mir herüber und erkundigte sich ob meines Befindens. Einmal brachte er mir tatsächlich einen Becher Tee ans Krankenbett.

So einen herzenswarmen, liebenswerten, charmanten Menschen hatte ich zuvor noch selten getroffen.

Jeden Tag, wenn Lukas, so hieß der junge Mann, das Zimmer betrat, schien es, als würde die Sonne aufgehen.

Lukas wurde bei seiner Geburt Trisomie 21 diagnostiziert. Auch Down-Syndrom genannt. Er kam mit einem Chromosom mehr auf die Welt.

Ich nenne es seit damals das Sonnenschein-Chromosom.