von Elke Sackel
Giorgio Morandi, Natura Morta, 1963
http://www.fotografie-in.berlin/robert-morat-galerie-bill-jacobson-and-giorgio-morandi-photographs-and-drawings/
Ein Bildband über Giorgio Morandi war eines der ersten Kunstbücher, die ich mir gekauft habe. Von Anfang an hat mich dieser Künstler in seinen Bann gezogen und mir zugleich ein Rätsel aufgegeben, das ich bis heute nicht lösen konnte.
Wie kann es sein, dass mich eine schlichte, kleine Zeichnung, die nur aus einigen zittrigen Linien besteht, tiefer berührt, als so manche virtuos gemalten Bilder in prächtigen Farben und riesigen Formaten?
Ich kann die Frage noch immer nicht wirklich beantworten, aber diese Zeichnungen berühren mich heute um nichts weniger als damals vor fast 30 Jahren. Es ist, als könnte man die Hand, die diese Linien gezogen hat, spüren. Als wäre sie mit dem Bleistift verwachsen und würde jede noch so kleine Regung des Gemüts wie ein Seismograf auf das Blatt übertragen. Die Linien sind sanft, tastend, ich möchte sagen zärtlich und voller Hingabe.
Es gibt zwei Stellen, an denen eine rasche Geste sichtbar wird: Am Ende der Signatur, wo eine Linie energisch gegen die Schreibrichtung gesetzt wird und etwas oberhalb der Mitte, wo eine waagrechte Linie in einer lässig hingesetzten Spitze ausläuft. Alles andere scheint mit vollkommener Ruhe und Gelassenheit gezeichnet zu sein. Die Linien umspielen die Formen der Gegenstände, der Bleistift ist leicht aufgedrückt, die Grauwerte wechseln nur minimal – aber doch präzise genug, um erkennen zu können, dass das Licht von vorne links kommen muss. Zwei offen gelassene Flächen wirken, als würde ein Sonnenstrahl auf weißes Porzellan treffen und für einen Moment die Augen des Betrachters blenden. Die Gegenstände (man erkennt sie wieder, wenn man einige von Morandis Stillleben gesehen hat) stehen nicht nebeneinander, sondern hintereinander. Die Fragen, die der Künstler sich gestellt haben muss, betreffen immer wieder das Phänomen des Sehens und kaum jemals etwas anderes. Einen Gegenstand mit den absolut wenigsten Mitteln wiedergeben. Dabei auf Licht und Schatten, auf Räumlichkeit, auf „das Wesen“ des Objektes nicht verzichten.
Ich habe einmal gelesen, dass er Tage, manchmal Wochen damit verbrachte, die Gegenstände zu positionieren bevor er zu Papier und Bleistift griff. Es ist als würde diese lange Zeit des Betrachtens in seinen Zeichnungen eingekapselt sein.
Und am unteren Rand, etwas nach links versetzt, steht groß und gut lesbar sein Name. Bei jedem anderen Künstler würde ich wohl Eitelkeit mit so einer Signatur verbinden. Aber hier? Es wirkt als würde die zeichnende Hand ganz automatisch auch dieses Element in die Komposition einfügen. Ein bedeutendes Gewicht am unteren Rand, das dafür sorgt, dass das Blatt harmonisch wirkt, obwohl das Motiv möglicherweise um eine Winzigkeit zu hoch …
Es ist das letzte Blatt, das Giorgio Morandi gezeichnet hat. Im Jahr 1963, dem Jahr, in dem ich geboren bin.
© Elke Sackel 2021-02-07