von Michael Dold
Egon warf den Brief mit einer verächtlichen Geste auf den Tisch und schnaubte: „Das hat man jetzt davon, dass man sich jahrelang um den alten Mann gekümmert hat!“ Martha, seine Frau nahm den Brief auf und las mit gerunzelter Stirn den Inhalt des Schreibens. „Daran ist nur diese Ilona schuld. Seit die deinen Vater pflegt, ist er wie ausgewechselt.“ Wobei sie das Wort „pflegt“ deutlich dehnte, um ihm eine zweideutige Bedeutung zu verleihen.
Hintergrund der familiären Aufregung war die Mitteilung Stefan Bergs, des Vaters von Egon, seine Pflegerin Ilona, die ihm neben der notwendigen medizinischen Betreuung auch den Haushalt führte, zu ehelichen. Nach zehnjährigem Witwerdasein und zunehmenden körperlichen Beschwernissen, hatte Stefan sich entschlossen, eine Pflegerin zu engagieren. Nach drei missglückten Versuchen, zwei gingen von selbst, eine bestahl ihn, fand er in der russischstämmigen Ilona eine geeignete Helferin. Sie kam viermal die Woche von sieben Uhr früh bis nachmittags um drei.
Ihren slawischen Akzent fand Stefan von Anfang an entzückend, erinnerte er ihn doch an seine Jugend nach dem zweiten Weltkrieg im russisch besetzten Teil seiner Stadt. Zudem brachte ihm Ilona ein paar Brocken ihrer Muttersprache bei und schon bald gab er seine Wünsche in holprigem russisch zum besten. Dies sorgte jedesmal für grosse Heiterkeit, vor allem dann, wenn Stefan die Worte verwechselte und Ilona ihm dann ihre wahre Bedeutung erklärte. So kam man sich Tag für Tag ein Stückchen näher und aus der anfänglichen Sympathie wurde echte Zuneigung.
Nach ungefähr eineinhalb Jahren des gegenseitigen Kennenlernens, eröffnete Stefan, nach einem gemeinsamen Mittagessen, Ilona seinen Wunsch, sie zu heiraten. Ilona war zunächst überrascht, zeigte sich aber nicht ganz abgeneigt. Sie gab jedoch gleich zu bedenken, dass zwischen ihnen ein nicht unerheblicher Altersunterschied bestünde. Immerhin war Stefan bald 82 und Ilona gerade erst 50 Jahre alt. Und ausserdem fühle sie sich nur für seine Gesundheit, nicht jedoch für noch etwaige körperliche Bedürfnisse zuständig, wenn er verstehe, was sie meine. In der Hinsicht, könne sie ganz beruhigt sein, meinte Stefan, er schätze sie ausschliesslich als gute Freundin und Gesprächspartnerin. Dann könne ja alles so bleiben wie es ist, betonte Ilona, wozu dann heiraten?
Daraufhin erzählt Stefan von seinem Sohn Egon und seiner Schwiegertochter Martha, die sich seit dem Tod seiner Frau nicht im geringsten um ihn gekümmert hatten. Zu Weihnachten, zu Geburtstagen und sonstigen Anlässen eine Grusskarte, sonst nichts. Ausser den zahlreichen Anrufen von Martha, wenn sie wieder einmal Geld brauchte. Beim letzten Anruf bezeichnete Stefan sie als geldgierig und legte auf. Seitdem herrschte Funkstille. Er habe deshalb beschlossen, einen Teil seines Erbes jemanden zukommen zu lassen, der ihn als Menschen akzeptiere und nicht als Melkkuh.
Ilona holte den Wodka und sagte: „Nastrovje, ich will!“
© Michael Dold 2020-04-11