Ein Theaterbesuch wird zu einem Erlebnis, wenn ich mich irgendwie wiederfinde, mich identifizieren kann, meine Gefühle angesprochen werden. Das kann natürlich auch eine mir fremde Welt sein. In diesem Stück aber war mir nichts fremd.
Ich war ein Kind nach dem Krieg – geboren im Jänner 1947 in einem kleinen Bergdorf – die Welt der Bäuerin liegt mir näher, genau genommen sehr nahe, als das der reichen Jüdin. In meinem Buch ‚Bald wird sich niemand mehr erinnern‘, schreibe ich über eine Kindheit, die ähnlich der ‚Späten Gegend‘ verlaufen ist. Und doch nicht – nur die äußeren Umstände. Meine Eltern waren weltoffen und, obwohl arm, konnte ich mich freier und unkonventioneller entwickeln.
Die wenigen Male, die ich in eine Stadt kam mit hohen vornehmen Häusern, blickte ich sehnsuchtsvoll zu den erleuchteten Fenstern auf – in die andere Welt, eine Welt in der die reiche Jüdin aufwuchs – dicke Vorhänge, polierte Holzmöbel, kristallene Hängelampen, Dienstmädchen und Gymnasium.
Wie verheerend der Krieg in das Leben dieser zwei Frauen einbrach, ist erschütternd. Die tragischen Ereignisse des 2. Weltkriegs blieben mir großteils erspart. Wir ‚Kinder der 50er Jahre‘ (auch eines meiner Bücher) hörten wohl viel vom Schrecken des Krieges, Bomben, Zerstörung, Hunger, gefallene Soldaten, aber wenig über die Verbrechen der Nazis. Die Folgen aber bleiben in meiner Generation spürbar.
Und damit hört meine Identifizierung mit den beiden Figuren auf, das Interesse an den Lebenswegen der zwei Frauen aber nicht. Was ist es, was mich am jüdischen so fasziniert – etwas Erhabenes – das ‚auserwählte Volk‘, eine mysteriöse Religiosität, ein mich sehr ansprechender Humor? Viele Bücher zu dem Thema habe ich gelesen, mir viele Biografien einverleibt, Ghettos in verschiedenen Städten besucht. Die großen Geister des 20. Jh. waren vielfach Juden, die Geschehnisse um den Staat Israel eine weitere Tragödie.
Vieles davon kommt zum Vorschein in ‚Späte Gegend‘, gegensätzlich zur Welt der Bäuerin. Die Frauen führen keinen wirklichen Dialog – jede erzählt ihre Geschichte. Es ist ein nebeneinander und das ist wohl bezeichnend.
Wo sonst könnte man dieses Stück spielen als im Lendbräukeller. Die Intimität der Bühne mit den Zusehern, die Kargheit der Ausstattung – ein Schutthaufen, dazu zwei Regenschirme als Requisiten und wechselnde Lichteffekte, die kunstvolle – ich möchte fast sagen – Nichtregie von Markus Plattner und das wahrhaftige Spiel von Beate und Madeleine prägen sich bleibend ein.
Was kann man nicht alles mit einem Regenschirm aussagen? – Kokett spielen, sich darunter verstecken, als Stock verwenden, sich vor allem möglichen schützen, ja sogar davonfliegen. ‚Unter deinen Schutz und Schirm‘ – lautete es in einem Gebet meiner Kindheit – ewige Sehnsucht nach Geborgenheit!
Gedanken zur Aufführung von ‚Späte Gegend‘ von Lida Winiewiecz
© Christine Sollerer-Schnaiter 2024-10-22