von icey
Es gibt sie an jeder Ecke in Berlin. Selbst in den abgelegensten Bezirken kann man sich immer darauf verlassen, sie zu finden. Nie lassen sie dich im Stich: Unsere Spätis.
Das würde jetzt vermutlich keiner zugeben, aber insgeheim hat jeder seinen eigenen, ganz besonderen Lieblings-Späti. Ausschlaggebend ist dabei weder die Ausstattung, Auswahl oder gar Sauberkeit. Meistens sind es die Betreiber als auch Kunden, denen man immer wieder begegnet.
Es war ein gewöhnlicher Dienstag, wie alle Dienstage nun mal sind. Ich war schon kurz vor meiner Haustür, als mir einfiel, dass ich keine Milch mehr hatte. Wie sollte ich dann am nächsten Morgen meinen Kaffee bitte genießen? Ohne Kaffee funktioniert doch kein Mensch! Und ganz besonders nicht morgens. Bis zum nächsten Supermarkt waren es zehn Minuten zu Fuß und es goss in Strömen. Also durfte mein Lieblings-Späti mir wieder einmal in meiner Not helfen. Ich begrüßte Micha, den Betreiber mit einem schiefen Lächeln. Er kannte mich schon seit zwei Jahren, seit ich nach Neukölln gezogen war. Er war die Urgestalt eines Berliners. Beide Arme komplett tätowiert, langes Haar aber Halbglatze, Bierbauch und immer ein mürrischer Blick. Warum auch immer, lächelte er jedoch jedes Mal, wenn er mich sah. Zumindest vermutete ich immer einen Ansatz unter seinem Schnauzbart.
“Na Prinzesschen, haste ma wieda deene Mülsch verjessen, wa?!” fragte er mich halb grinsend. Warum er mich so nannte, verstehe ich bis heute nicht. Ganz wie es sich gehört, hatte ich meinen Kleidungsstil an die neuköllner Hipster-Szene angepasst. Von Jeans mit Bluse und Stiefeletten zu Jogginhose mit Sneakern und Lederhemd. Nicht zu vergessen die knallpinke Strickmütze. Gerade wo ich antworten wollte, dass mir der Regen eine gute Ausrede war, um meinen Lieblings-Späti aufzusuchen, trat er ein.
Der Kerl, der mir nicht mehr aus dem Kopf ging, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Ich wusste weder wie er heißt, noch ob er hier im Kiez wohnte. Er sah einfach viel zu “normal” aus für diese Gegend. So ein Kerl trieb sich doch nur in Schöneberg oder Charlottenburg rum. Nur um das klarzustellen, er sah keineswegs wie ein Spießer aus. Einfach nur gepflegt und cute!
Das erste Mal sah ich ihn vor drei Monaten. Seitdem waren mir vier weitere Zufallstreffen vergönnt. Immer nur hier im Späti. Und jedes Mal tauschten wir kurze Blicke miteinander, mehr nicht. Ich hätte aber schwören können, dass die Zeit stehen blieb, wenn sich unsere Augen begegneten.
‘Los trau dich’, dachte ich mir innerlich. Dieses Mal sprichst du ihn an.
“Ist dir auch die Milch ausgegangen?” war das erste, was mir einfiel. Na toll, jetzt dachte er sicher, ich hab ’nen Dachschaden. Er grinste nur und meinte: “Kannst du Gedanken lesen?”
Wir zahlten beide grinsend und gingen in den Regen hinaus.
“Ich bin übrigens Luca” sagte er. Wir verabredeten uns für Samstag um sieben Uhr vor dem Späti.
Seitdem sind zwei Jahre vergangen. Für unseren Kaffee kauft er jetzt immer Milch bei Micha.
© icey 2022-03-16