von Lissi Winter
Die Sonne schien mir mitten ins Gesicht, wärmte meine kalte Nasenspitze. Bald wäre sie hinter dem Horizont verschwunden, färbte die Wolkenschleier bereits in Rosé-, Rot- und Orangetönen.
Ich saß mit meinen Eltern im Garten auf der Terrasse, die Teller vom Abendbrot noch vor uns auf dem Tisch. Neben mir auf der Bank lag mein Kindle, die marineblaue Lederhülle aufgelöst und mitgenommen wie ein echtes zerlesenes Buch. Ich strich darüber, während ich die altbekannte Aussicht genoss. Im Flachland war ein Garten einfach ein Garten, ein Sonnenuntergang einfach ein bunt gemalter Himmel. Aber hier, im Gebirge, blickte man weit. Wie könnte ich jemals von hier wegwollen, woanders zu Hause sein?
Ich zog meine Beine in einen Schneidersitz, versteckte die kleinen Füße in der großen, dunkelgrauen Jogginghose. Dazu trug ich einen flauschigen Pulli in der Farbe von Malervlies. Mit den verfitzten, lockigen Haaren sah ich wahrscheinlich aus wie ein Geist. Zumal meine Augen immer noch ein bisschen verheult waren. Vor nicht einmal drei Stunden hatte ich mit meinem Freund Schluss gemacht. Im dritten Versuch. Und obwohl es sich absolut richtig anfühlte, machte es mich doch traurig. Veränderungen mochte ich eigentlich nicht und ich hätte nie gedacht, dass ich sie einmal gezielt herbeiführen würde. Trotzdem, unter dem Hauch von Melancholie versteckte sich vor allem eines: Erleichterung. Erleichterung und eine gewisse Aufregung. Ich war einundzwanzig, Studentin und zum ersten Mal seit der Schule musste ich in meinen Zukunftsvisionen auf überhaupt niemanden Rücksicht nehmen außer mich selbst.
Papa las nun Fußballnachrichten auf dem Handy, Mama lernte Englisch. Ich schielte kurz auf mein Handy: Pünktlich um neunzehn Uhr fünfzehn waren wir fertig mit dem Abendbrot. Keine Nachrichten von irgendwem, ich hatte meine Ruhe. Konnte machen, was immer ich wollte.
Verträumt griff ich nach meinem Buch. Ich wusste, wie die Geschichte endete, las sie bereits zum zehnten Mal. Trotzdem konnte ich es kaum erwarten, weiterzulesen. Meine Lieblingsstellen warteten auf mich.
Während ich die Teller und ungleichen Gläser abtrocknete, plapperte ich munter mit meiner Mama und wertete die Geschehnisse des Tages aus. Papa war irgendwo im Garten verschwunden, was mein Mundwerk löste. Er durfte das auch alles wissen, was ich sagte, aber irgendwie war es seltsam, es ihm selbst zu erzählen.
Das Geschirr klapperte, die Vögel zwitscherten ein letztes Mal vor dem Schlafengehen. Irgendwo dröhnte noch ein Rasenmäher. Ansonsten war es friedlich, hier in der kleinen Stadt. Wenn ich wollte, konnte ich für immer hierbleiben. Zu Ende studieren, dann wiederkommen. Eine schöne Wohnung auf der kleinen Sonnenleite mieten, vielleicht eine WG gründen. Dazu niedliche Blumentöpfe und bepflanzte Gummistiefel auf dem Balkon.
Ein Traum, der nur von mir abhing. Der nicht in der großen weiten Welt spielte, sondern genau hier, wo ich zu Hause war.
© Lissi Winter 2022-12-09