von Marianna Vogt
Mein Gott, wie kann Frau MĂŒller nur so kleinlich sein. Sie hĂ€tte mir die gestrige, ĂŒbergenau gerechnete aufgerundete halbe Stunde, die ich zu spĂ€t zur Arbeit gekommen bin, wirklich groĂzĂŒgig schenken können. Aber nein. Ich habe sogar ein âSonderjöbliâ gefasst. Ich muss die Adresskleber fĂŒr die Weihnachtskarten ausdrucken, auf die UmschlĂ€ge kleben und sie dann noch heute Abend zum Postamt bringen. Wer macht denn heute noch sowas? Kostet nur eine Stange Geld und lesen tun es die wenigsten.
Stattdessen hĂ€tte man im Internet gratis Bilder und SprĂŒche herunterladen und per Massenmail verschicken können. Dies wĂ€re erstens umweltfreundlicher, weil ein paar BĂ€ume am Leben bleiben könnten und zweitens kostengĂŒnstiger, da ein Rundmail keine Briefmarken benötigt und drittens zeitsparender, weil dies in einem halben Tag, Pause mit eingerechnet, erledigt wĂ€re. Aber nun habe ich fertig gejammert. Ab an die Arbeit sonst produziere ich noch âĂberzeitâ.Â
WĂ€hrend der Mittagspause.
«Schwesterherz, hast du dein Handy verlegt, dass du so lange brauchst, bis du den Anruf entgegennimmst?»
«Nö, aber ich musste erst ĂŒberlegen, ob ich mit dir sprechen möchte. Wo brennt’s, Gabi?»
«Hey, hey, was ist denn mit dir los? Hast du zu viel GlĂŒhwein getrunken?»
«Nein, aber einen solchen genehmige ich mir heute Abend nach der Arbeit.»
«Ich bin neugierig, Holly. Welches Buch hast du mit einer Schneeflocke auf dem Cover ausgesucht?»
«Tut mir leid, dass ich dich enttĂ€uschen muss, Bruderherz, aber alle BĂŒcher mit âSchneeflockenâ sind in der Bibliothek zurzeit ausgeliehen. Vermutlich weil es diesen Dezember noch nie geschneit hat, sind die Menschen auf BĂŒcher ausgewichen.»
Stille – dann brach schallendes GelĂ€chter aus.
«Holly, das ist der Witz des Tages! Aus deiner Antwort schlieĂe ich, dass du momentan kein Buch liest, richtig?» Holly druckste herum, schlieĂlich entgegnete sie: «Genau, ich habe wirklich keines gefunden.»
«HĂ€ttest du mich um Rat gefragt, hĂ€tte ich dir das Buch: âSchneeâ von Maxence Fermine empfohlen. Ăbrigens, auf dem Cover ist ein Spatz abgebildet. Du liebst doch Vögel ĂŒber alles.»
«Ja, Vögel sind mein Ein und Alles», antwortete Holly. »Je gröĂer, wie lieber. Ăbrigens, das Manuskript ĂŒber âGiacomo â meine groĂe Liebeâ habe ich nun fertig geschrieben. Es ist ein wunderschönes Buch geworden. Falls du jemanden kennst, der es verlegen könnte, sagâ mir unbedingt Bescheid. Aber nun haben wir genug geplaudert, Gabi, ich muss zurĂŒck zur Arbeit. Ich werde mich heute Abend umsehen, vielleicht erreicht mich deine Buchempfehlung genau zum richtigen Zeitpunkt, so wie es gestern auf dem KĂ€rtchen gestanden hat.»
Als Holly sich an den Schreibtisch setzte und auf die Computertastatur sah, entdeckte sie wieder eines dieser rÀtselhaften Zettelchen. Sie sah sich um. Ausser ihr befand sich niemand im Zimmer. Geschwind las sie die Botschaft: Ein Leser lebt tausend Leben bevor er stirbt. Der Mann, der nie liest, lebt nur eines. Georges R.R.Martin
Die Geschichte ist eine Mischung aus MÀrchen und RealitÀt!
Titelbild: Giacomo – er lebte 24.5 Jahre bei der Autorin
© Marianna Vogt 2024-12-05