Spiegelbild

Michaela Furch

von Michaela Furch

Story

Ich stehe vor dem Spiegel. Meine Augen geschlossen. Ich kann das nicht. Mein Kopf ist leer. Wer bin ich wirklich? Ich habe für das, was ich erlebt habe, keine Worte. Keine Worte, die ausdrucken könnten, was in den letzten Jahren in mir passiert ist. Zu wem ich geworden bin. Wer ich war. Und wer ich heute bin. Ich bin ich. Bin ich ich? Vielleicht bin ich auch die Version dessen, was die Welt aus mir gemacht hat. Die Erfahrungen, die Bilder, die Menschen. Meine Gedanken und Worte, die sich zusammenfügen zu einem ganzen Großen. Doch sind es meine? Oder gelernte? Eingeprägte? Vordefinierte? Was gehört zu mir und was nicht? Wie viel von dem, was ich denke, ist meines? Und wie vieles davon ist Müll? Wie vieles davon kann entsorgt werden? Und woher weiß ich, was was ist?
Die Welt hat mir so viele Fragen offenbart – doch keine Antworten geliefert. Seitdem ich denken kann, habe ich nach diesen Antworten gesucht. In anderen Menschen, in Büchern. In Wissen und in Planbarkeit. In den Details des Lebens. Doch außer Schmerz, Hoffnungslosigkeit und Trauer habe ich nicht viel gefunden. Ich habe gesucht, gegraben – bis in die tiefsten Tiefen des menschlichen Daseins. Ich wollte verstehen. Doch mit jeder Schicht, die ich tiefer gegraben habe – mit jeder Schicht, die ich losgelöst von mir selbst betrachten konnte, habe ich mich selbst mehr und mehr verloren. Meinen Kern. Meine Essenz. Mein tiefstes Empfinden. Den Zugang zu meinem Herzen, meiner Seele. Ich wollte vergessen, wer ich war um nicht sehen zu müssen, was aus mir geworden ist. Die Schwelle des Bösen, die unantastbare Grausamkeit des Lebens und die Würde des Augenblicks. All das schien in mir vereint – und doch wollte ich es nicht sehen. Ich wollte mir selbst nicht in die Augen blicken. Zu viel Angst hatte ich vor dem, was ich zeigen würde. Zu viel Angst hatte ich vor der Wahrheit. Dem Abgrund. Dem Neuanfang. Der Erkenntnis. Doch irgendwann blieb mir keine andere Wahl. Ich sah mich in den Augen der anderen. Spürte die Verbundenheit. Lernte Seiten an mir kennen, die mich gleichermaßen erschreckten wie faszinierten. Ich erkannte, dass wir alle Eins sind – verborgen in der scheinbaren Individualität. Was ich mir antue, tue ich anderen an. Und umgekehrt. Es gibt kein Entkommen. Kein Entfliehen. Ich kann nicht vor mir davonlaufen – denn ich werde mir immer wieder selbst begegnen. In einem Wort, einer Geste, einer Erfahrung. Ein Spiegelbild dessen, was sich in mir befindet und immer befand. Es ist an der Zeit. Ich kann nicht länger warten.
Langsam öffne ich die Augen. Ich blicke sie an. Diese Person, die aus mir geworden ist. Ich sehe die Härte. Die verborgene Schönheit. Ein Ebenbild dessen, was das Leben gezeichnet hat. „Sieh mich an“, sagt eine Stimme in mir. „Sieh mich an“. Und dann schaue ich hin. Ich blicke mir in die Augen. Ungeschönt. Ehrlich. Wahrhaftig. Ich nehme mich wahr. Beginne mich langsam zu spüren. Ich verstecke mich nicht mehr. Ich mache mir nichts mehr vor. Ich leugne nicht. Ich bin. Und in diesem Moment wird mir klar, wer ich bin. Mit Tränen in den Augen betrachte ich mich und bedanke mich. Bedanke mich bei mir für den Mut, den Kampf, die unerschütterliche Kraft meines eigenen Willens. Meines Willens zu leben. Ich bedanke mich für die Liebe zu mir selbst, die zwar verborgen, doch nicht verschwunden war. Ich bedanke mich für das Glück der Welt und für den Weg, der nun vor mir liegt. Den Weg an meiner Seite.

© Michaela Furch 2023-08-20

Genres
Romane & Erzählungen, Spiritualität