von Sarah Prignitz
Ich stehe vor dem Spiegel. Sehe sie an, sehe mich an. Zwinge mich dazu, damit ich nicht gezwungen werden kann. Ich sehe alles, aber eigentlich sehe ich nichts. Für die anderen erschaffe ich ein Bild von mir. Ich erlaube ihnen dieses Spiegelbild zu betrachten, so wunderschön. Keiner von ihnen weiß, wie sehr ich mein Spiegelbild verabscheue. Es könnte mich niemals in diesem Leben zufriedenstellen. Es schmerzt mich es zu betrachten.
Ich weiß, wer das Mädchen dort ist, doch ich kenne sie nicht. Ihr Körper, der nur als Hülle fungiert, spiegelt sie nicht wider. Die Hülle ist zugewiesen, nicht umtauschbar, auch wenn sie nicht zu mir passt. Das bin ich nicht. Trotzdem betrachte ich mich in diesem riesigen Spiegel. Ich mag ihn nicht. Er erhebt sich demonstrativ vom Boden bis zur Decke. Er ist überall. Ich kann meinen Körper nicht vor ihm verstecken, auch wenn ich es so gerne würde.
Ich sehe in dem Spiegel vor mir ein Mädchen, das sich bemüht freundlich auszusehen und nicht aufzufallen. Denn fällt sie auf, ist sie umgeben von starrenden Augen. Alle betrachten sie und werden zu Spiegeln. Sie sieht sich in ihren Augen. Tausende Spiegelbilder, von allen Seiten. Wie soll man das nur ertragen? Jeder urteilt und ich werde verurteilt. Deutlich höre ich ihre unausgesprochenen Worte in meinem Kopf. Sie wiederholen sich endlos. Mit einem erneuten Blick in den Spiegel sehe ich wieder dasselbe Mädchen mit einer geraden Körperhaltung. Nicht steif, nur aufrecht. Wohlerzogen sagen sie, doch in Wahrheit ist es nur antrainiert. Das tat sie nicht für sich, sondern damit die anderen, die sie betrachteten, zufrieden waren. Ein perfektes Spiegelbild. Das wollen doch alle haben. Das wollen alle sehen. Was will man also mehr?
Jedoch sind nicht alle Spiegel identisch. Sie zeigen unterschiedliche Bilder, teilweise nur Bruchstücke. Welcher Spiegel ist nun der richtige? Welcher ist nicht von Gedanken und Gefühlen manipuliert? Welcher zwingt einen nicht zur Veränderung? Welcher akzeptiert?
Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich die Hülle eines Mädchens, wie es in einer anderen Welt jenseits der Spiegel leben würde. Doch ich bin nicht sie. Spiegel zeigen nicht mich. Sie zeigen, was andere sehen. Ein Spiegelbild zum Verurteilen. Ich betrachte es nicht als solches. Ich sehe nicht das, was sie sehen. Ich kann mehr sehen, wenn auch nicht durch den Spiegel. Betrachte ich mich, ohne die Hilfe eines Spiegels, sehe ich alles. Wirklich alles. Spiegel sind beschränkt auf das Äußere eines jeden. Sie ermöglichen uns keinen tieferen Einblick in ein Leben. Sie können nicht zeigen, was hinter dem Bild, versteckt im Spiegel wartet. Man sieht nur die verschiedenen Gesichtsausdrücke, die Masken, die sie wechseln.
Nicht jetzt und nicht irgendwann werden die Spiegel sich ändern. Sie werden einem stets das eine zeigen. Denn für ein wirkliches Betrachten darf man nicht in einen Spiegel hineinschauen, man muss den Blickwinkel ändern. Man muss hinausschauen. Sehen, wer davorsteht und erkennen, wessen Spiegelbild man betrachten wollte. Nur so kann man Wirkliches erkennen. Es lässt einen verstehen. Denn ein Spiegelbild ist nur eine Reflexion. Es ist das, was andere sehen und nicht, was man wirklich ist.
© Sarah Prignitz 2023-09-05