Am Spiegelgrund

MiaDandra

von MiaDandra

Story

Nicht das Vergessen gehört zu meiner Persönlichkeit, sondern das Erinnern. Ich mag den verdrängten Schmerz meiner „Leihoma“ nicht ruhen lassen. Ich will wissen, was mit ihrem Sohn passiert ist. „Was war mit dem Sohn von der Resitant?“- frage ich wieder und wieder meine Eltern. Kurze Wortfetzen fliegen mir entgegen: „Den haben sie umgebracht, unterm Hitler. Der war geistig behindert“, so die unterkühlte Antwort meines Vaters. Das ärgert mich bis zum Zähneknirschen.

Meine Mutter kann sich, nachdem ich sie zum x-tenmal frage erinnern, dass die Resitant einmal in den 1930er Jahren mit dem kleinen Buben auf Besuch war. Sie hat mit ihm auf einer ausgebreiteten Decke in der Küche gespielt. Weiter weiß sie nichts und anscheinend hat sie die Resitant nie nach ihrem Sohn gefragt. Das lässt meine Zähne noch heftiger aufeinander schlagen. Mehr kann ich von den Beiden nicht herauskriegen, deshalb wende mich an das allwissende und niemals vergessende Netz. Meine Befürchtungen führen mich zur Recherche nach den Kindern vom Wiener Spiegelgrund. Im Juli 1940 erfolgte die Inbetriebnahme der „heilpädagogischen Anstalt Am Spiegelgrund“. Es wurden hier mindestens 772 Kinder getötet, die keinen Nutzen für die Volksgemeinschaft hatten. An den Kindern erfolgten medizinische Versuche, wie tödlich verlaufende TBC-Impfversuche. Die Kinder hatten verschiedenste Behinderungen und die Untersuchungen sollten feststellen, ob sie an Erbkrankheiten litten. Seit 1939 erfolgte eine „erbbiologische Bestandsaufnahme“ der Wiener Bevölkerung, alle sogenannten Minderwertigen wurden erfasst. Bis 1945 wurden 700.000 Karteikarten erstellt. „Psychisch abwegige“ Kinder und Jugendliche wurden „Am Spiegelgrund“ auf ihre Erziehbarkeit und ihre soziale Brauchbarkeit geprüft.

Angespannt entdecke ich das Totenbuch vom Spiegelgrund und ich finde zu meinem Erstaunen den Beleg für den verdrängten Schmerz meiner Leihoma. Die Aufzeichnungen im Totenbuch erzählen mir von ihrem Sohn Friedrich, geboren wurde er am 28. Jänner 1927. Am 23. September 1942 wird er in die „heilpädagogische Anstalt“ eingeliefert um zwei Monate später am 30. November mit 15 Jahren getötet zu werden. Er ist das Leben nicht wert befinden die Ärzte des Naziregimes. Meine Recherchen führen mich weiter in das Wiener Stadt- und Landesarchiv. Zahlreiche Krankengeschichten von „lebensunwerten“ Kindern lagern hier. Ich mache mich auf den Weg dorthin, doch leider, die Krankenakte von Friedrich wurde wie so viele andere vor langer Zeit vernichtet.

Während ich diese Zeilen schreibe, steigt ein beklemmendes Gefühl von Wut und Schmerz in mir auf. Wie mögen diese unterdrückten Gefühle meine Leihoma geplagt haben? Nie hat sie darüber gesprochen. In ihrer Depression landet sie dann ausgerechnet auch noch am selben Ort – in der psychiatrischen Abteilung der Baumgartner Höhe – an dem ihr Sohn ermordet wurde.

Wie hätte sie da Heilung erfahren sollen?



© MiaDandra 2020-05-07