Spieglein, Spieglein an der Wand

Sabrina Bach

von Sabrina Bach

Story

Wenn ich in dein Gesicht sehe, erkenne ich nicht die Person, auf die Mama stolz war. Die dein Bruder beschützen wollte vor der Realität, als du mit der Schultüte auf dein Leben zuliefst. Deine Haare wippten im Wind, als du dich mit deinem Leben an deinen Rucksack klammertest. Nervosität gehörte zu Neubeginnen dazu, doch genau so sehr ein breites Lächeln und rote Backen. Ich erkenne nicht die Unbeschwertheit, die man an dir immer so geschätzt hat: Denn letztlich hast du das gewisse Etwas verloren. Du hattest so viele Wünsche und Ziele. Der Ehrgeiz wie gemeißelt in jeden Zug deiner Miene – ein Mosaik aus Scherben der Vergangenheit und der Vernunft. Mehr kann man im besten Fall nicht mehr darin ablesen. Die Leute, die dich einst lobten, erkennen dich nicht mehr. Das Potenzial verschwendet wie das restliche Leben und was bleibt dann noch? Außer gerümpfte Nasen und dein leises Wimmern, wenn du mal wieder versagt hast.

Doch es ist wahr. Die Augen sind noch immer blaugrün und deine Pupille sieht noch immer wie ein ausgelaufener Farbklecks aus, der nur auf die alles verändernde Perfektion wartete. Darauf wartete, alle deine Fehler, die du an deinem Äußeren seit jeher fandest, auszugleichen. Du fandest dich nie hässlich, bis man es dir regelrecht einprügelte. Du hast begonnen dich in deiner Haut zu verstecken, einzuhüllen mit frechen Antworten und dem Versuch, dich von der Welt abzuschotten, doch nichts hatte geholfen, nichts hatte es geschafft, vergessen zu machen, was man dir immer gesagt hat. Und was du gesehen hast, wenn du in den Spiegel schautest. Wer nicht schön sein kann, muss leiden. Doch jetzt bist du bald 20, du bist nicht mehr in der Schule. Du siehst nicht mehr aus wie das Kind, dem alle Türen offen standen. Du siehst müde aus und keiner findet dich mehr bezaubernd. Schon lange hat dich keiner mehr gelobt, Erwachsene brauchen kein Lob. Doch du, du bist nicht erwachsen. Doch auch kein Kind. Du bist gar nicht mehr wie ich, denn ich erkenne mich nicht, bei einem Blick in dein Gesicht. Ich drücke meine Augen zusammen und wenn nur noch ein Spalt Licht durch meine Lider kommt, ist es als würden zwei Welten kollidieren. Etwas Leises in mir brüllt: „Ich will nie werden wie du“, doch dann tritt die Realisation ein, dass es zu spät für mich ist. Was ist aus mir geworden?

© Sabrina Bach 2022-08-07