Sprecher der Toten

MISERANDVS

von MISERANDVS

Story

Die Geschichten über Lydia, die ich hier teile, sind mir wertvoll. Vielleicht scheint es, als gingen sie mir leicht über die Finger, aber das ist nicht der Fall. Geschichten zu Lydia schreibe ich sorgsam, lese sie oft durch, korrigiere viel, formuliere um. Penibel, sorgsam, empfindsam. Sie stellen – schon platzbedingt – nur einen kleinen Teil dessen dar, was sie war, was sie ausgemacht hat, womit sie gekämpft hat und was sie mit mir verbunden hat. Ich schreibe sie anders, als meine anderen Geschichten, die ich in einem Rutsch hinschreibe und damit zufrieden bin.

Menschen, die meine Geschichten lesen, kommentieren gelegentlich. Sie fühlen sich berührt, lassen mich an ihren Empfindungen und Gedanken zu meiner Lage und meinen Gefühlen teilhaben. Ich schätze das sehr. Allein die Tatsache, dass sich jemand die Zeit nimmt, ein paar Worte hinter meiner Geschichte zu verfassen, ist für mich große Wertschätzung. Manche öffnen sich sogar so weit, aus ihren Leben zu berichten. Sie schreiben mir ihre Erfahrungen, schildern mir ihre Versuche, wie sie in ähnlichen Lebenslagen einen Weg gefunden haben, mit Verlust und Schmerz umzugehen. Das ist großartig; manche Ratschläge kann ich annehmen, manches möchte ich auch versuchen; manches scheidet für mich persönlich aber auch völlig aus.

Was mich allerdings immer kopfschütteln macht, ist, wenn ich lese, wie Menschen, die weder mich kennen, noch Lydia gekannt haben, mit dem Brustton der Überzeugung schreiben: “Lydia möchte sicher…” oder “Lydia will sicher nicht…” oder “Lydia ist nun sicher…” Mir ist schon klar, dass diese Worte sehr lieb gemeint sind, in ihnen sogar große Empathie wohnt, und sie aus einer persönlichen Überzeugung, einem Glauben, einer Lebenseinstellung der oder des Kommentierenden stammen, und sie aus eigener Erfahrung richtig erscheinen mögen. Fakt ist allerdings, Formulierungen dieser Art machen mich wütend. Augenblicklich frage ich mich, wie jemand sich erdreisten kann, hinzuschreiben, was Lydia sicher will oder nicht will, was sie sicher ist oder nicht. Lydia kämpfte zeitlebens hart um ihre eigene Stimme, gegen Fürsprecher.

Für Tote zu sprechen ist ein Recht, das jemandem zusteht, meine ich, der sie gekannt hat. Es ist schon eine sensible Herkulesaufgabe, im Namen Lebender zu sprechen, deren Wünsche, deren Begehren so wiederzugeben, wie sie das tatsächlich wollen.

Niemand kannte Lydia so wie ich. Und selbst ich überlege lange, wäge sorgsam ab, ehe ich schreibe, was Lydia wohl wollte, hinterfrage x-mal, ob es wirklich ihre Worte wären, die ich hinschreibe, oder nicht doch meine eigenen, meine Wünsche und Vorstellungen, die ich auf sie projiziere. Und ich lade euch deshalb ein, ihr, die ihr so schön bei mir kommentiert, bitte schreibt nicht so, als wüsstet ihr, was Lydia ist, war, sicher will oder nicht. Ihr wisst das nicht.

Erinnert euch mit mir an sie! Vermisst sie mit mir! Und ich werde euch dafür lieben. Sprecht über Lydia, doch nicht FÜR sie. Vielen Dank.

© MISERANDVS 2021-09-28

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