(Sprich)wörtlich: ohne Gewissensbisse

Florian Altmann

von Florian Altmann

Story

Wer Lola kannte, wusste, dass dieser Marienkäfer ein aufgewecktes Mädchen war. Nicht nur Insekten war der lebhafte Käfer bekannt, auch andere Lebewesen wussten über Lola Bescheid. Im Grunde ging den meisten Tieren die aufbrausende Art des Marienkäfers auf die Nerven. Insgeheim aber wusste man, Lola war unentbehrlich und eine Bereicherung im Leben aller.

Lola flog viermal schneller als ein normaler Marienkäfer. So kam ihr schon früh der Durst. Für gewöhnlich landeten Marienkäfer bei einer Wasserfläche und tranken einen winzigen Schluck. Doch bei der hektischen Lola war alles anders.

Es graute erst der Morgen, da war sie bereits durstig. Flugs hielt Lola nach einem geeigneten Platz zum Trinken Ausschau. Und natürlich ließ sich der Marienkäfer ablenken. Auf der Wiese glitzerte etwas verlockend. Rasch erkannte Lola, dass es sich auf einem Grashalm befand. Wie um seine Schönheit noch aufzuwerten, bewegte sich das Ding nun. Es war rund und glatt; ein Muss für Lolas Blick. Schlagartig wechselte Neugier zu Gier. Blind vor Lust schoss Lola auf den Grashalm zu und verschlang das Wunder, das sie als Tautropfen identifiziert hatte. Ein Leckerbissen, der sehr rar war und nur wenigen Marienkäfern den Tag versüßte. Genießerisch schluckte Lola die köstliche Flüssigkeit und ignorierte dabei, dass dieser Tau ganz seltsam schmeckte. Um nichts zu verschwenden, biss Lola zur Sicherheit den Halm ab, auf dem noch kleinste, wertvolle Partikel haften konnten, und kaute eifrig darauf.

Mit vollem Magen und gänzlich zufrieden flog Lola weiter. Schwungvoll drehte sie einige Kreise, flog Loopings und sauste im Zickzack über die Wiese.

Bis zur Pirouette aber kam sie nicht.

Noch Tage später zierte ein toter Marienkäfer die Wiese.

Wie es sich herausstellte, war der scheinbare Tautropfen keineswegs ein solcher gewesen. Die Flüssigkeit kam von der Gattung Mensch und hieß Benzin. Reines Gift für zarte Marienkäfer. Vom bloßen Trinken dieses Gemisches hätte Lola noch Überlebenschancen gehabt, obgleich diese ewig gering waren. Den Fehler, den der ahnungslose Marienkäfer tat, war, dass er den Grashalm noch abgebissen hatte. Dieser hatte sich in ihrem Hals verkeilt und die arme Lola daran gehindert, das giftige Benzin auszuspucken. Beschwingt war sie weitergeflogen, ohne zu merken, wie sie sich innerlich verkrampfte und das Gift anfing, seines Amtes zu walten.

Seit diesem Schicksalsschlag war auf den Wiesen Ruhe eingekehrt. Eine Ruhe, die für alle Tiere wohlverdient war, doch hatte keines von ihnen den Preis zahlen wollen, der den Trubel vernichtet hatte. Am Tag darauf war die traurige Nachricht noch nicht zu allen Tieren durchgedrungen.

Ein Regenwurm wälzte sich aus der Erde, lauschte der ungewöhnlichen Stille. Prompt fragte er eine Passantin, eine Schnecke: „Entschuldigung, weißt du, warum man Lola nicht hört?“ Erst schien es, als wollte die Schnecke nicht antworten, dann aber schluchzte sie:

„Die hat gestern ins Gras gebissen.“

© Florian Altmann 2021-08-11