(Sprich)wörtlich: Sticheleien wie Stiche

Florian Altmann

von Florian Altmann

Story

Jeder Stich ein Tod. Besorgt ließ die Königin aller Bienen ihre Facettenaugen über die Statistik wandern. Die Zahlen wiesen ganz klar auf einen Rückgang der Bienen in den vergangenen Jahren hin. Eine Prozentzahl stach der Königin in die Augen. Fast 60% aller Bienentode wurden als Selbstmord verzeichnet. In der Bienensprache beschrieb dieser Ausdruck einen Tod, der auf natürliche Weise nicht stattgefunden hätte. Meist kam es zu einem Selbstmord, wenn Bienen in Todesangst zustachen. Etwa bei einem Menschenfuß, der im letzten Moment noch das Insekt verschont hätte. Die Biene bekam das in solchen Fällen nicht mehr mit, sie war zu dem Zeitpunkt bereits tot. Um weiteren Selbstmorde zu entgehen, bildete die Bienenkönigin sogenannte EHAs – „Erste-Hilfe-Arbeiterinnen“ – aus. Sie sollten im rechten Moment eingreifen und eine Biene, die kurz vor einem Selbstmord stand, retten.

Kurz darauf passierte Bina, einer jungen Arbeiterin, ein solches Unglück. Sie hatte sich soeben auf einer Blume, die prächtige Farben aufwies, niedergelassen. Noch bevor sie den Nektar aufsammeln konnte, spürte sie, wie sich langsam etwas Großes auf ihren Rücken legte. Sofort erkannte Bina, dass es – gemäß dem Paradebeispiel – ein Fuß eines Menschen war. Um sich die Qualen zu ersparen, stach sie zur Sicherheit zu. Was sie leider nicht wusste, war, dass dies ein Selbstmord werden würde, da der Fuß genau in dem Moment von Binas Rücken angehoben wurde, in dem sie ihren Stachel in den Fremdkörper steckte. Daher wäre sie eigentlich nicht zertrampelt worden und hätte überlebt. Zum Glück war gerade eine EHA in der Nähe, die die Situation sofort eingeschätzt hatte und schon am Menschenfuß gelandet war, um die suizidgefährdete Biene vorm Sterben zu bewahren. Erleichtert bemerkte Bina, wie ihre Retterin anfing, mithilfe von kleinen Tannennadeln, den Stachel, mitsamt Bina, aus dem Fremdkörper zu entfernen. Schlagartig erkannte Bina, wer sie da operierte. Es war ihre verhasste Stiefschwester Honey, die Bina noch weniger leiden konnte als Bina sie. Zu allem Übel bemerkte auch Honey in diesem Moment, welche Biene sie gerade rettete. Sofort ließ sie die Nadeln fallen, die sie für die OP gebraucht hatte. Ihrer Stiefschwester wollte sie ganz bestimmt nicht helfen. Sie flog einige Zentimeter davon. Dort lächelte sie schadenfroh, weil sie wusste, gleich würde Binas Stachel sich von ihrem Körper lösen und ihre Stiefschwester wäre endlich vernichtet. In Todesangst schrie Bina Honey an, sie sollte ihr helfen; was würde die Bienenkönigin sagen, wenn sich Honey als Mörderin entlarvte. Doch Honey erwiderte kalt: „Du warst mir schon immer ein Dorn im Auge. Und wenn ich durch diese Tat mein Zuhause verliere, kann ich mich immer noch glücklich schätzen, dich verloren zu haben“. Dann flog sie ungerührt fort. Verzweifelt rief ihr Bina, deren Stachel nur mehr ganz leicht an ihrem Körper hielt, nach:

„Du kannst mich doch jetzt nicht im Stich lassen!“

© Florian Altmann 2021-08-11