von Florian Altmann
Im frühen 90. Jahrhundert kam eine neue Form des Wahrsagens auf den Markt. Geprägt wurde diese Methode durch Sandra, einer Wahrsagerin in Ausbildung. Es dauerte nicht lange, da war Sandra berühmt und die ganze Welt reiste nach Neuseeland, wo diese speziellen Voraussagungen praktiziert wurden. Sandras Praktik, das sogenannte „Fadenspiel“, bekam unzählige positive Rückmeldungen. Und angeblich war bisher alles, was Sandra vorhergesehen hatte, auch tatsächlich im Leben ihrer Kundinnen und Kunden passiert. Das „Fadenspiel“ war simpel, doch brauchte es die richtige Fähigkeit, um es gewinnbringend anzuwenden. Eine halbe Stunde bei Sandra kostete umgerechnet 899 Euro, doch da sich bisher alle Voraussagen als richtig erwiesen hatten, war man bereit, diese Unsummen zu bezahlen. Man setzte sich zu Sandra in eine Badewanne, sonst würde das „Fadenspiel“ angeblich nicht klappen. Und dann machte die Wahrsagerin das, was ihre Methode so außergewöhnlich machte. Sie suchte die gesamte Kleidung ihrer Gäste ab, bis sie einen Faden fand, der lose vom Gewand abhing. Den packte sie, zog theatralisch daran, riss ihn ab und ein merkwürdiges Prozedere begann. Sandra wickelte den Faden um ihre Finger. Wenn er lang genug war, legte sie in sich auch um ihren Hals. Und weitere Körperteile folgten, begleitet von Sandras angestrengtem Blick und gruseligem Geflüster. Manchmal ließ sie auch Wasser über den Faden laufen, mal kalt, mal warm. Und irgendwann war sie fertig. Dann warf sie den Faden in die Luft, fing ihn mit der Zungenspitze auf, nahm ihn in die Hand und gab ihn ihrer erstaunten Kundschaft zurück. Dann sprach sie; sie sprach alles aus, was sie während dem „Fadenspiel“ gesehen hätte und in der Zukunft der Person vor ihr wichtig sein könnte – und ließ begeisterte Gesichtsausdrücke zurück.
Der Erfolg war groß, die Erfindung schien perfekt.
Doch eines Tages berichteten die Medien weltweit: Skandal. Wahrsagerin Sandra – eine weltberühmte Größe erlebt den Zusammenbruch ihrer erfolgreichen Karriere.
Der Grund: Bei einem ihrer Kunden passierte ein Missgeschick – nicht schlimm genug, um eine gewöhnliche Karriere schlagartig zu vernichten, bei einer Persönlichkeit wie Sandra tat es dieses Fauxpas schon.
Es trug sich folgendermaßen zu.
Bei einer ihrer großen, dramatischen Gesten, die Sandra mit dem Faden zwischen den Fingern vollführte, fiel ihr ebendieser aus der Hand. Eigentlich nicht tragisch, so einen Fehler hätte Sandra einfach überspielt und vertuscht. Doch wie es der Zufall so wollte, landete der Faden genau im Abfluss der Badewanne, in dem Sandra und ihr Kunde saßen. Vor Schreck stoppte die Wahrsagerin ihre Worte – gezwungenermaßen, denn ohne Faden war es ihr unmöglich, die Zukunft vorherzusehen und sie wachte aus ihrer Trance auf. Mit folgendem Satz landete sie in den Schlagzeilen, den Worten, die sie sagte, nachdem der Faden verschwand und sie bei ihrer Vorhersage nicht weiterwusste:
„Jetzt habe ich den Faden verloren.“
© Florian Altmann 2021-08-11