Stammbaum

MagdaMarlena

von MagdaMarlena

Story

Ich erinnere mich, ich war beeindruckt. Damals als Schulkind. Von der ratternden Zugfahrt, den schroffen Felsen und der hölzernen Zugbrücke über dem steilen Abgrund. Von den mächtigen Burgmauern, den glänzenden Rüstungen und dem tiefen Brunnen, in den wir spuckten und ewige Sekunden zählten, bis wir den Tropfen auf der Wasseroberfläche hörten. Am meisten aber faszinierte mich dieses Fresko, das am unteren Ende der Treppe begann, sich rundherum an der Decke des Säulenganges schlängelte und sich bis in das obere Stockwerk wand. Es war alt, die Farben vergilbt und abgeblättert. Der dicke Stamm verzweigte sich zu Ästen, immer und immer wieder, die Namen der Nachkommen wirkten wie eingraviert in das Holz. Ich stand da, mit offenem Mund, den Kopf im Nacken. Ich verfolgte jeden Ast, registrierte jeden Bruch, entzifferte Buchstabe für Buchstabe, las jeden Namen, bis hinauf zu den letzten Besitzern. Generationen waren hier an die Wand gemalt, Menschenleben aufgepinselt, Jahr für Jahr. Ich junges Ding stand da, fasziniert und schockiert zugleich von der endlosen Ewigkeit der Zeit im Vergleich zur kurzen Endlichkeit unseres Lebens. Als die Lehrerin zum Aufbruch rief, ging ich beschwingt. Große Pläne schwirrten im Kopf.

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, meine lieben Großeltern auszuquetschen. Zuerst befragte ich Hilde und Fritz, die Eltern meiner Mutter, die bei uns daheim wohnten. Am Wochenende besuchten wir Theresia und Wilhelm in der Stadt. Aber die Informationen, die ich bekam, waren bei Weitem nicht die Ausbeute, die ich mir erhofft hatte. Meine Pläne zeigte riesige Lücken, so viele Generationen vor mir waren verschwunden. Sie waren abgetaucht und versunken in die stillen Untiefen der Zeit.

Dennoch machte ich mich engagiert an die Arbeit. Ich begann im Flur, gleich neben der Haustür. Den dicken Stamm zog ich quer über die weiße Wand, die Stufen hinauf, verzweigte dort neue Äste, zog sie um die Ecken, malte und pinselte, schrieb Namen neben Namen. Bis hinauf ins obere Stockwerk arbeitete ich mich vor. Neben meiner Zimmertür schrieb ich schließlich meinen Namen. Und den meiner Schwester. Wir zwei, als die Letzten unserer Ahnenreihe, verzierte ich mit besonderer Sorgfalt. Ich war sehr stolz auf mein Werk! Es sah dem Original in der Burg sehr ähnlich. Meine Eltern waren allerdings alles andere als beeindruckt. Wutverzerrte Gesichter und zornige Schreie, eine schlechte Ernte warf mein Stammbaum!

Dreimal musste ich die Wände mit Dispersionsfarbe überstreichen, bis die schwarzen Buchstaben der Namen nicht mehr durchschimmerten und endgültig verschwunden waren, untergetaucht und versunken hinter dicken Farbschichten.

Mein Sohn kommt heute aus der Schule, der Arbeitsauftrag der Lehrerin ist klar. Wir machen uns engagiert an die Arbeit, beginnen im Flur, gleich neben der Tür. Der Rest der Familie ist beeindruckt. Überraschte Gesichter, eine gute Ernte wirft unser Stammbaum!

© MagdaMarlena 2021-03-07

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