von Sonja M. Winkler
Ich liebe meine Muttersprache. Ich interessiere mich für sie. Ich bemühe mich, ihre Eigenheiten zu verstehen. Ich nehme zur Kenntnis, dass sie sich verändert. Wir verändern uns ja auch. Die Haut wird schlaffer. Ab dem 30. Geburtstag verlieren wir jährlich 1% unserer Muskelmasse, sagt Philipp. Ihr wisst, wen ich meine. Den, der um neun Uhr zehn der größten Bewegungsgruppe Österreichs zuzwinkert, damit es im Alter zu keinen Hoppalas kommt. Auch meiner 92-jährigen Mutter, deren Turnpartner der Rollator ist, macht das tägliche Fitnessprogramm Spaß.
Jetzt bin ich vom Thema abgekommen. Auch das soll im Alter häufig vorkommen. Wir verheddern uns im Gedankengespinst und verlieren den Faden. Wortfindungsstörungen nehmen auch zu. Grad unlängst musste ich nach dem Namen der Hauptdarstellerin von „Titanic“ googeln. Ich wusste zwar, sie ist die Straßenbahnschaffnerin im „Vorleser“, aber das half mir auch nicht weiter.
Das Kurzzeitgedächtnis lässt aus. Die Kraft in den Beinen lässt nach, und mit 80 werde ich die Hälfte meiner Muskelmasse eingebüßt haben. Gesetzt den Fall, ich unternehme nichts dagegen. Nun ist es mit der deutschen Sprache aber ganz anders. Ihr Organismus wächst ins schier Unendliche. Sie nimmt Anabolika. Protzt mit den Muskeln. Wird immer komplexer, besonders der Wortschatz. Die Menge der Anglizismen, die sich das Deutsche einverleibt, steigt. Derzeit sind es zwischen 3 und 10%.
Neue Wörter schießen wie Schwammerl aus dem Boden, dafür hat der Duden „Pappenstiel“ gestrichen.
Die Werbung ist besonders kreativ und erfindet ständig neue Produktnamen.
Unlängst sitze ich in der Straßenbahn, schaue aus dem Fenster. Da sehe ich ein Werbeplakat im Haltestellenhäuschen. Oatly leer, flink’s dir! lese ich. Und seit dem sticht mich der Hafer. Flinken – flank – habe geflunken. Aber ich flunkere nicht. Das schwedische Lebensmittelunternehmen mit Sitz in Malmö vertreibt Hafergetränke und steht im Verdacht, für Rodungen im Amazonas-Regenwald verantwortlich zu sein.
Ich möchte kein dystopisches Bild zeichnen, aber manchmal sehe ich die Zukunft düster, die sprachliche. Dystopie ist so ein Wort, das gerade im Trend liegt und in den Printmedien häufig zu finden ist. Warum ersetzen wir so viele heimische Wörter durch fremde?
Seit vorigem Jahr heißt es nicht mehr Frauenmord. Nun sagt man „Femizid“, denn dieser Begriff würde deutlich machen, heißt es, dass es sich um Tötung aufgrund des weiblichen Geschlechts handle, aber ehrlich gesagt, in meiner Vorstellung erzeugt das Wort „Mord“ ein viel abschreckenderes Bild von Gewalt als das Abstraktum „Femizid“, ein Fremdwort, über dessen versteckte juristische Bedeutungsnuancen ich mich erst informieren muss.
Wahrscheinlich bin ich noch nicht „woke“ genug. Auch ein neues Wort, das der Duden 2021 aufnahm. Letzte Woche hab‘ ich es in zwei Fernseh-Interviews gehört, allerdings falsch verwendet, denn laut Wikipedia bedeutet es ein bisschen mehr als „erwacht“.
© Sonja M. Winkler 2022-02-14