Steinsuppe

Alina Linde

von Alina Linde

Story

Ein Sack voller Steine, so schwer lässt er sich tragen! Und Ihar, der schwarze Ihar, wie wir Kinder ihn nannten, stöhnte und ächzte. „Steine“, rief er uns zu, wenn wir um ihn herumliefen, neben, hinter, vor ihm und schrien: „Was hast du in deinem Sack, schwarzer Ihar!“ „Steine!“ Wir lachten: „Lügner, Lügner – wer trägt denn schon Steine!“ Und Ihar, der schwarze Ihar senkte den Blick und ging wortlos weiter. Schritt vor Schritt, von dem großen Steinbruch den schmalen Steg zwischen Wald und Fluss entlang, bei Sonne, Wind und Regen. Hin und zurück, zehn, elf, zwölf Mal am Tag, drei oder vier Kilometer. Dort, wo der Weg endlich breit genug war, lud er seine Last in einen knarrenden Karren. Graue, feste Säcke, die sogar Steine aushielten, Tag um Tag, bei Sonne und Regen. Und wir Kinder liefen um ihn her, spotteten und schrien. Er schwieg, nur manchmal erzählte sein pfeifender Atem, was er laut uns nicht sagte. Der schwarze Ihar – wir verstanden nicht, was er tat, was es wollte: Steine, wer trägt denn schon Steine? Niemand! „Es muss wohl Gold sein, was er da trägt!“ „Ja“, pflichteten wir bei. Also Säcke voll Gold, zehn, elf, zwölf am Tag, am Ende des Wegs wartete schon der Esel mit dem Karren. „Und wenn die Fuhre dann angekommen ist, dann muss dort ein Schloss sein, ein großes Schloss aus Gold, bis hoch in den Himmel.“ So musste es sein. Wir waren ganz sicher. Ganz, ganz sicher sogar. (Und Ihar log uns nur an, damit keiner auf die Idee käme, ihm seine Reichtümer zu stehlen.) So ging das über mehrere Jahre. Zwölf Säcke am Tag, vom Steinbruch zum Ladeplatz, das war sein tägliches Pensum. Manchmal auch mehr, aber das waren gute Tage.

„Warum machst du das, schwarzer Ihar?“, fragte ich ihn schließlich eines Tages, „Du musst es doch nicht machen, du bist doch schon so reich!“ (Wie viel Mut hatte es mich gekostet, ihn ganz hinten im Steinbruch abzufangen, ganz allein und ohne die anderen!) Lange starrte er mich an, ehe er mir schließlich Antwort gab: „Steine gegen Suppe, verstehst du?“ Ich schüttelte den Kopf: „Steinsuppe?“ Ob er mich jetzt für dumm erklärte? Doch Ihar lachte nur leise: „Ja, kleines Ding, Steinsuppe – so kannst du es nennen.“ Dann drehte er ich um, den nächsten Sack auf die Schulter zu nehmen. Steinsuppe, was er wohl meinte? Ich rätselte den ganzen Weg nach Hause, bestimmt eine Stunde. Eine Lösung des Rätsels war nicht zu finden. Erst am Abend, als Babka mir einen großen Teller voll Suppe auf den Tisch stellte und mich zum Essen ermahnte, verstand ich, was er wohl meinte …

Später habe ich mich oft heimlich zum Steinbruch geschlichen und mein Pausenbrot unter einen der noch leeren Säcke versteckt, die er später mit Steinen füllte. Wir redeten nie mehr ein Wort miteinander. Und doch nickte er mir manchmal ganz verstohlen zu, wenn die anderen Kinder schrien, wie wild um ihn herumsprangen … und ich nur leise dabeistand und nicht mehr mitmachte.


© Alina Linde 2024-10-22

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Inspirierend, Reflektierend