Stell dir vor …

Stell dir vor, du würdest in einer unberechenbaren Welt leben – einer Welt, in der es keinerlei Gewissheit darüber gäbe, ob du einen Menschen ein weiteres Mal sehen wirst. Du könntest niemals mit Sicherheit sagen, dass du deine Mutter oder deinen Vater, deinen Opa oder deine Oma, deine Schwester oder deinen Bruder, diesen grandiosen Freund, diesen tollen Verwandten oder diesen angenehmen Bekannten wiedersehen wirst. Stell dir vor, du hättest keine andere Wahl, als jeden Moment mit diesem Menschen voll auszukosten, weil das Einzige, dessen du dir sicher sein könntest, wäre, dass jedes Treffen das letzte sein könnte.

Wenn du nicht wüsstest, ob du diesen einen Menschen ein weiteres Mal sehen wirst, mit ihm lachen kannst, ihm sagen kannst, dass du ihn liebst, dass du die Zeit mit ihm genießt, dass du ihm für vieles dankbar bist – wie würdest du dich bei diesem – vielleicht letzten – Treffen verhalten? Was würdest du tun und was lassen?

Würdest du dich vielleicht trauen, auf der Familienfeier über deinen Schatten zu springen, nach der Hand deines Vaters zu greifen und mit ihm gemeinsam zu einer Musik zu tanzen, die du nicht magst, einfach nur, um diesen wunderbaren Moment der Freude mit ihm zu teilen?

Würdest du vielleicht dein Ego abstellen, deiner Mama stattdessen mit Liebe begegnen und ihr vergeben? Oder dich sogar bei ihr dafür entschuldigen, dass du zu lange Groll gehegt und die kostbare Zeit, die ihr hättet gemeinsam verbringen können, verschwendet hast?

Würdest du vielleicht deinem Bruder, zu dem du zuvor keine gute Bindung hattest, in die Augen sehen und sagen: „Bruder, ich weiß, unsere Herzen sind verhärtet, doch unsere Liebe kann sie erweichen. Du bist ein Teil von mir. Ich bin ein Teil von dir. Ich liebe dich.“ Würdest du ihn so fest umarmen wie nie zuvor, wenn du wüsstest, dass du ihn vielleicht zum letzten Mal siehst?

Würdest du dir die Geschichten deiner Schwester geduldiger anhören – wie unwichtig dir die Details auch erscheinen mögen –, weil du einfach ihre Anwesenheit genießen würdest und dankbar wärst, dass ein Mensch dich so innig und bedingungslos liebt?

Würdest du dich mit deiner Oma in den Garten setzen und ihr dafür danken, dass sie an dich geglaubt hat, wenn es kein anderer tat, und dir wertvolle Lebensweisheiten mitgegeben hat, die dir in schwierigen Zeiten Licht schenken?

Wenn du niemals wüsstest, ob du einen besonderen Menschen ein weiteres Mal sehen wirst, würdest du Schuldfragen erörtern und auf dein Recht beharren? Würdest du die ganze Zeit sprechen oder deinem Gegenüber mehr Redezeit einräumen? Würdest du deine Gedanken und Gefühle offenbaren? Würdest du aufmerksamer hinhören? Würdest du dich mit verletzenden Worten zurückhalten und stattdessen mehr loben? Würdest du dich schneller entschuldigen und schneller verzeihen? Würdest du häufiger lachen? Würdest du intensiver leben? Würdest du intensiver lieben?

Nun, wir leben tatsächlich in einer solch unberechenbaren Welt.