Stiegenfliegen zu Allerheiligen

Barbara Slamanig-Pfund

von Barbara Slamanig-Pfund

Story

Meine Tante Anni hatte elfenbeinfarbene, in wunderbare Wellen gelegte Haare und war Klavierlehrerin am Konservatorium in Innsbruck. Nach der alljährlichen „Gräberrallye“ zu Allerheiligen lud sie stets die Verwandtschaft zu Kastanienreis und Nussbuchteln zu sich ein. Die Alten und die Jungen kamen gerne und anfangs war es ja ganz lustig, einfach dazusitzen und zuzuhören. Denn die Alten gaben den Jungen das Gefühl, es sei ein Privileg, an ihrer Gesellschaft teilhaben zu dürfen. Wohlgemerkt, die „Jungen“ waren – abgesehen von uns Kindern – schon über dreißig Jahre alt – die „Alten“ auf jeden Fall über sechzig.

Tante Anni lebte in einer Art Schloss, so sah ich das zumindest als Kind. Das ganze Haus war irgendwie unheimlich, weiß, mit Türmchen und die Fensterläden waren aus grün gestrichenem Holz. Es hatte auch ein Musikzimmer, in dem ein riesiger schwarzer Flügel stand. Ich durfte mich ihm nur nach absolut gründlichem Händewaschen nähern und sogar etwas darauf herumklimpern.

Die Diele des Hauses war eiskalt und von ihr führte eine Treppe hinab in eine totale Finsternis voller dumpfer Geräusche vom Heizraum. Das war ein Brummen und Klacken, das einen bis in die Garage verfolgte, in der der alte, riesengroße Volvo meiner Tante stand. Ich betete jedes Mal, nie mit diesem Auto mitfahren zu müssen, weil ich immer befürchtete, die schweren Türen von innen nicht mehr aufkriegen zu können. In dem Keller gab es auch einen Waschraum mit einer Waschmaschine, die mir überdimensional groß erschien. Sie hatte ein derart riesengroßes schwarzes Loch zum Wäscheeinfüllen, dass ich immer Angst hatte hineinzufallen, wenn ich dem Ungeheuer zu nahe käme.

Bei jedem Besuch hoffte ich, dass diese eine Bitte meiner Tante nicht käme, nämlich die, ich solle eine volle Mineralwasserflasche aus dem Vorratsraum im Keller holen. Denn der Vorratsraum lag zwischen dem Waschraum mit dem menschenverschlingenden Ungeheuer und dem Heizkeller, aus dem das unheimliche Rumoren drang. Wenn die Bitte allerdings kam, wollte ich mir nicht die Blöße geben zu sagen, dass ich mich nicht in den Keller getraue. Ich wäre zwar lieber an der Hand meiner Mutter gegangen, aber brave Mädchen, die schon sieben oder acht Jahre alt waren wie ich, konnten das doch alleine.

So verließ ich scheinbar ganz locker das Speisezimmer und stand dann vor der Kellerstiege. Langsam tastete ich mich hinab und drückte mich an der Wand entlang in Richtung Vorratsraum, ohne die Türen zum Heiz- und zum Waschraum aus den Augen zu lassen. Dann schoss ich in den Vorratsraum, betete, dass die Mineralwasserflaschen am üblichen Platz stehen mochten, ergriff eine davon am Hals und brach jeden Rekord im „Stiegenfliegen“ nach oben, indem ich bis zu drei Stufen auf einmal nahm.

Dann blieb ich vor der Tür zum Speisezimmer stehen, um mich zu fassen und Luft zu holen, und trat dann lächelnd ein. Geschafft, für dieses Mal. Und im nächsten Jahr bin ich schon um ein Jahr mutiger.

© Barbara Slamanig-Pfund 2019-05-16

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