Stille

Evelyn Weyhe

von Evelyn Weyhe

Story

Ich liebe die Stille. Stundenlang kann ich sie genießen, dieses unsichtbare Nichts, höchstens unterbrochen von Vogelgezwitscher oder gleichmäßigem Wellenrauschen. In dem warmen Sand der Düne versteckt, lasse ich die andalusische Frühlingssonne in mich eindringen.

Ich sinniere über den Begriff Stille. Es gibt die angenehme Art, die wegen der Abwesenheit störender Geräusche beruhigend wirkt. In Bibliotheken, Kirchen, beim Meditieren, bei konzentrierter Arbeit. Das menschliche Gehirn braucht manchmal diese Stille für intensive Denkprozesse. Auch für den Schlaf ist eine ständige Geräuschkulisse störend, und man wacht unausgeruht auf.

Wer einmal in der Wüste war und die absolute Stille erlebt hat, ohne auch nur die geringsten Geräusche wahrzunehmen, weiß, dass dies mit der Zeit Unruhe hervorruft. Als Folter eingesetzt, führt diese Abwesenheit jeglicher Geräusche mit der Zeit zu Halluzinationen und Denkstörungen.

In „aller Stille“ nimmt man Abschied von seinen Lieben. „Totenstille“ oder „Grabesstille“ ist in unseren Wortschatz eingegangen.

Die Sehnsucht nach Stille hat über die Jahrhunderte Dichter und Poeten beschäftigt. Von Goethes „Über allen Gipfeln ist Ruh“ bis zu Eva Strittmatters Gedicht: „Ich mach ein Lied aus Stille“, von Eichendorff, Hebbel und Storm werden die Meeresstille, Windstille, Winterstille, Mittags- und Abendstille gepriesen. Auch in anderen Kulturen ist die Stille ein Thema. Nicht so sehr in Andalusien, wo man völlig schmerzbefreit mit dem Begriff Lärm umgeht. Als ich der spanischen Sprache noch nicht mächtig war, dachte ich immer, jeder schreit hier jeden an. Aber das ist eine normale Unterhaltung.

Meine Gedanken plätschern dahin, wie die müden Wellen, die sich an diesem windstillen Tag ans Ufer schleppen. Ich schließe die Augen und dämmere in einen angenehmen Halbschlaf hinüber, während ich Begriffe des Lärms aufzähle, um mich an der Stille zu erfreuen.

Brausen, knattern, dröhnen, gellen, heulen, klappern, scheppern, tosen, Rabatz, Radau. Rattern ist das letzte, was ich denke, bevor der Albtraum wahr wird.

Eine Horde Jugendlicher auf Quads erfüllt alle aufgezählten Lärmbegriffe plus ohrenbetäubender Musik, die aus einem Rucksack dröhnt. Knatternd brausen sie den Strand entlang. Entspannt lehne ich mich wieder zurück. Zu früh gefreut, sie kommen zurück und bauen unweit von mir ihr Lager auf. Warum hier? Der Strand ist menschenleer!

Ein Grill wird ausgepackt, die Musik wird lauter gestellt, alle scheinen gleichzeitig zu reden, einer checkt seinen Quad und dreht es voll auf. Stinkender Rauch vermischt sich mit dem des Grills. Die Mädchen schnattern lautstark und posieren vor den jungen Machos, die ihrerseits ihre Muskeln spielen lassen und Flickflacks vorführen. Kühlboxen werden geöffnet, Bierflaschen machen die Runde. Der Lärmpegel wächst.

Ich packe grinsend meine Sachen, ziehe ein paar Dünen weiter und genieße weiter meine Stille.

© Evelyn Weyhe 2021-02-18

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