von Hannah X
Sie hatte extra gewartet, bis das Kaminzimmer leer war und sie sicher sein konnte, dass niemand sie stören wĂŒrde. Sie war vorhin schon einmal da gewesen, aber erst jetzt hatte sie sich getraut zurĂŒck zu kommen. Von drauĂen hörte sie es donnern. Sie liebte Gewitter, weil sie selbst wie eines war. Sie war wie ein ruhiger, heiĂer Sommertag und eine Sternenklare Nacht. Sie war wie die Spannung in der Luft, bevor der erste Regentropfen fĂ€llt. Sie war trĂŒgerisch, wie die Ruhe des Sommers. Aber in ihr sammelte sich die Spannungen, die GefĂŒhle und das Chaos. Und gab es nur einen Funken, einen Tropfen auf dem heiĂen Stein, fiel alles sich in sich zusammen, und sie explodierte.
Felicity hatte sie kaum wieder erkannt. Das war nicht die Frau, die jeden Donnerstag um Punkt drei die Bibliothek betrat. Das war nicht die Frau, die sie nicht ausstehen konnte. Eigentlich wollte sie nur noch einmal ins Kaminzimmer, um Charles Whiskey-Reste nicht verkommen zu lassen, aber durch ihr Loch hatte sie die Frau gesehen, die etwas zu suchen schien.
Der Funke, der sie zum Explodieren gebracht hatte, der ihre sorgfĂ€ltig aufgerichtete Fassade zum Bröckeln gebracht hatte, war diese verdammte Visitenkarte gewesen. Jede Woche aufs neue fĂŒrchtete und freute sie sich zugleich vor dem Treffen mit Charles. Der Ă€ltere Herr war der einzig angenehme Kontakt in ihrem Beruf. Und seine Visitenkarten, deren Originale sie nie ausgab (sie lieĂ sie kopieren) waren ihre gröĂten SchĂ€tze. Jede Woche ummalte er ihren Namen mit den schönsten und filigransten Blumen und jede einzelne Karte brachte ihr Ruhe und Selbstvertrauen. Diese Woche hatte er sich fĂŒr Blumen entschieden die ein „Glöckchen“ in ihrem Namen trugen: jede Karte war einer Blume gewidmet: Schneeglöckchen in strahlendem WeiĂ, Osterglocken in deren Kelche einige Bienen gemalt hatte, die lilane Glockenblumen, die eine Ruhe ausstrahlte, die sie gerne selbst hĂ€tte. Doch ihre Lieblingsblumen waren Maiglöckchen, und genau diese Karte hatte sie in ihrer Aufregung, die neuen Karten sehen zu können, aus Versehen zerrissen. Und da hatte sie gemerkt, dass das Gewitter nicht mehr aufzuhalten war. Sie hatte auf Autopilot geschaltet, die Karte fallen lassen, damit niemand auch nur auf die Idee kommen konnte, dass diese Karten fĂŒr sie das schönste der Woche waren, und war schnell gegangen, um die Karte spĂ€ter wieder aufzuheben. Aber die Karte war weg, und mit ihr ihre ganze Selbstbeherrschung. Ihr Gewitter bahnte sich unaufhaltsam den Weg.
Voller Erstaunen sah sie, wie die Frau, die sonst so aussah, als wĂ€re ihr alles und jeder egal, in TrĂ€nen ausbrach. Sie sackte auf dem Boden, auf dem sie beim Suchen der Karte herumgerutscht war, in sich zusammen und weinte hemmungslos. Und das erste Mal hatte Felicity das GefĂŒhl, dass die Spannung, sie jeden Donnerstag in ihrer Schwanzspitze spĂŒren konnte, nicht nur von Charles kam. Sie beschloss am nĂ€chsten Donnerstag fĂŒr beide eine Freundin zu sein.
© Hannah X 2024-06-29