von Johann Geitner
Ich sollte nicht hier sein. Unter all den Honoratioren und bedeutenden Persönlichkeiten war ich fehl am Platze. Meine besten Kleidungsstücke waren gerade gut genug, um mich nicht zu enttarnen. Marions Ehemann war kurzfristig verhindert, so fragte sie bei mir an, ob ich sie begleiten möge. Als Schwester des Gastgebers stand sie obligatorisch auf der Einladungsliste. Sie fühlte sich alleine unwohl im Beisein der erlesenen Gästeschar, einer imposanten Ansammlung zahlreicher Ärzte, der Bürgermeister, des Landrats. In die Verlegenheit, Konversation ausüben zu müssen, kam ich nicht. Niemand nahm wirklich Notiz von mir. Ungeniert bediente ich mich am üppigen Buffet. Gerade noch gelang es mir, dass die grünen Oliven nicht über den Tellerrand kullerten. Die noble Dame des Typs Arztgattin mir zur Seite beäugte mich argwöhnisch: „Wo schlichten sie das alles nur hin?“
„Trainiere ich alles wieder ab.“
Auch wenn die Tafel ein unbegrenztes Angebot offeriert, gehört es sich im erlauchten Kreise nicht, sich ungeniert und völlerisch zu bedienen. Man achtet schließlich auf seine Figur, auch wenn die Umfänge um die Leibesmitten das Gegenteil verkünden mögen. Nach dem zweiten Teller, voll geladen in gleichem Maße, meldete sich mein Verdauungsstrang auf ungebührliche Weise. Schlemmen im Übermaß stellt in dieser illustren Welt für sich alleine schon einen Fauxpas dar, Anzeichen von Verdauung sind allemal zu viel des Guten. Ich kannte das Hotel und hastete die Treppe hoch, in der Hoffnung auf komfortable Privatsphäre. Rasch in die Toilettenräume, alles Grün, alle Kabinen frei. Ich wählte die linke in der Ecke, so dürfte ich vor Überraschungen sicher sein. Ruckzuck die Tür verriegelt, Hose und Slip runter. Schon bahnte sich die Eruption ihren Weg, erleichternd und lautstark in gleichem Maße. Ein nicht enden wollender Lavastrom, ohrenbetäubend das Explosionsgeräusch. Schlagartig konnte ich wieder entspannt durchatmen. Noch einige kleine Nachbrenner und die Angelegenheit war überstanden.
Keine Sekunde zu spät, schon wurde die Tür aufgezogen, Schritte mehrerer Personen waren zu hören. Offensichtlich traten sie an die Waschbecken.
„Voll öde hier.“
„Die ganzen alten Knacker.“
„Die Musik bringt’s auch nicht.“
„Ist dir der Tobi aufgefallen?“
„Ist das der große Blonde?“
„Ist der Sohn vom Chefarzt.“
„Der ist süß.“
Mag sein, ich kenne ihn nicht. Haben sich die Gören aufs Herrenklo verirrt? Mir schwante ein übler Verdacht.
„Hier stinkt’s ja mächtig.“
„Voll übel.“
„Hauen wir ab.“
„Warte. Ist das etwa die Kunigunde? Die habe ich total aus den Augen verloren. Die ist doch eben nach oben gegangen.“
„Kunilein, bist du das, die hier so stinkt?“
„Kuni, hallo.“
„Hallo, hallo, melde dich!“
Ein Kerl mit piepsiger Stimme geht im Film als Frau oder Mädchen durch, im echten Leben sicher nicht. Jetzt war ich in arger Bedrängnis. War Kunigunde Freundin oder Mobbingopfer? Dem Namen nach eher die Oma. Aber wer spräche so mit seiner ehrwürdigen Großmutter und würde sein Erbe aufs Spiel setzen? Was hätte ich entgegnen sollen? Begleitet von einem Kichern klopften sie an die Kabinentür.
„Wollen wir mal reinschauen?“
© Johann Geitner 2025-04-18