von Ulrike Sammer
Es war fĂŒr meinen Mann und mich Tradition: Jeden Sommer waren wir ein paar Tage in Reichenau an der Rax zu den âFestspielen Reichenauâ. Wir genossen tagsĂŒber die Natur dieser wunderbaren Landschaft und abends die groĂartigen TheaterstĂŒcke mit hochrangigen Schauspielern.Die Festspiele Reichenau zĂ€hlen seit ihrem Beginn 1988 zu den erstrangigen Adressen im österreichischen Sommer-Festspielkalender. Die Vorstellungen finden im Juli im Theater Reichenau im alten âGroĂen Saalâ und in spĂ€teren Jahren im âNeuen Spielraumâ statt. Besonders stilvoll waren auch die AuffĂŒhrungen in zwei SĂ€len des stillgelegten Grandhotels âHotel SĂŒdbahnâ. TĂ€gliche Theatervorstellungen werden durch Klavierkonzerte und MatinĂ©en abgerundet.
Das Besondere an den Festspielen Reichenau ist ihre Spezialisierung auf TheaterstĂŒcke des âfin de siecleâ. So sahen wir viele StĂŒcke von Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig, Heimito von Doderer, Hermann Bahr, Thomas Mann und noch einigen anderen Autoren dieser Zeit. Manche StĂŒcke wurden sogar in Reichenau geschrieben, weil hier zu dieser Zeit ein Treffpunkt intellektueller Kreise war. Es wurde möglichst werktreu inszeniert. Die Schauspieler kamen hauptsĂ€chlich vom Burgtheater oder vom âTheater in der Josefstadtâ, den zwei fĂŒhrenden BĂŒhnen in Wien, an denen man in der Lage ist, den authentischen Tonfall und die AtmosphĂ€re der Zeit vor und nach dem ersten Weltkrieg wiederzugeben. (NatĂŒrlich kann man auch in Deutschland Schnitzler spielen, aber es gehört auch eine ganz gewisse MentalitĂ€t dazu, um das Spezielle einzufangen. Die gibt es nur in Ostösterreich, besonders in Wien). Die Art der Sprechpausen, bei denen die Worte im Raum stehen, und die Melancholie wird hier unvergleichlich verkörpert.
Vor Jahren hatten wir einmal ein TheaterstĂŒck so gebucht, dass wir direkt, ohne vorher ins Hotel zu kommen, zur Vorstellung fuhren. Wir hatten wie immer eine Zeitreserve eingeplant. In Wien war allerdings dichter Freitagsverkehr und auch auf der Autobahn gab es einen Stau. SchlieĂlich setzte heftiger Regen ein, so dass kein schnelleres Fahren möglich war. Mein Blutdruck stieg gewaltig, wir rechneten schon damit, krĂ€ftig zu spĂ€t zu kommen. Das bedeutet, dass man erst zur Pause eingelassen wird. SchlieĂlich war es auch sehr schwierig einen Parkplatz zu ergattern. Aber wie durch ein Wunder kamen wir nur ein paar Minuten zu spĂ€t. Als wir im Laufschritt ankamen, erbarmte sich der Billetteur und lieĂ uns ganz leise in den Zuschauerraum ein. Es war schon finster und das StĂŒck hatte schon begonnen. Mit einem kleinen âLichtfunzerlâ wurden wir zu unserer Reihe gebracht, aber dann sahen wir nichts mehr. Unsere PlĂ€tze waren leider ziemlich in der Mitte. Wir tasteten uns ĂŒber fremde Köpfe und Schenkel weiter. Als ich aus Versehen einem fremden Herren in der vorderen Reihe auf die Glatze griff, zischte er wĂŒtend: âDas nĂ€chste Mal kommen Sie aber frĂŒher!â
© Ulrike Sammer 2020-12-12