Story.done

Marina Markétha Kowalski

von Marina Markétha Kowalski

Story
in mir

Achtung. Wutrede!

Mittlerweile ist „Schwurbler“ ein Ehrenabzeichen. Wer so genannt wird, ist stolz. Jeder Blödsinn, der durch die dünne Hirndecke eingesickert ist, wird als Nachweis eigenständigen Denkens erlebt. Leute, die noch nie gedacht haben, fühlen sich geadelt, was ich ihnen gönne, würden sie nur den Mund halten. Aber Blödsinn schwappt durch das Land wie ein übermächtiger mentaler Murenabgang. „Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, meinte einst Immanuel Kant und wir sind heute so weit, dass jeder meint, dass das genau auf sie und ihn zutrifft. Alle nicken, wenn man das sagt, und zwinkern verschwörerisch, weil sie sich im Club der Geistesriesen wähnen. Der Satz von Karl Kraus – Man muss nicht nur keine Meinung haben, sondern auch unfähig sein, sie auszudrücken – beschreibt die Kommunikationsfähigkeit unserer Gegenwartskultur. Die Aufklärung, die ohnehin nie ausreichende Konsequenzen gehabt hat, ist derzeit abgesagt.

 „Denken fällt schwer, darum urteilen die meisten“, meinte C.G. Jung und wir sind in eine Welt eingetreten, wo das Urteilen und der Affekt als „Denken“ reframed wurde. Damit ist die große Transformation geglückt. Ich gratuliere der Menschheit. Wir haben es geschafft, erwachte, erleuchtete Individuen zu werden, einfach, indem wir es behaupten und daran glauben.

Der Zweifel am eigenen Denken war immer der Sicherheitsgurt unseres Geistes. Nur der Zweifel und die Demut haben uns zu reflektierten Menschen gemacht. Doch der Gurt ist gelöst und wird neuerdings gar nicht mehr angeschnallt. Alle setzen sich in ihre Geistespoliden, schnallen sich nicht an und geben Gas. Der Ausstoß an toxischen Abgasen hat dadurch enorme Ausmaße angenommen.

Ich bleibe hier bewusst auf einer Metaebene, denn wenn ich konkrete Namen oder Situationen oder Umstände erwähnte, würde sofort der Solidarisierungs- oder Beißreflex einsetzen, Affekte eben, die in jedem Online-Forum einer Tageszeitung einfach zu beobachten ist. Da wird gehasst und getreten, aber definitiv nicht diskutiert. Der reflexive Diskurs ist out of order und Leute wie … (bitte Namen einsetzen) oder … (bitte Namen einsetzen) behaupten, ihn zu warten und zu reparieren. Dass wir diesen Typen auch nur irgendetwas glauben, ist Zeichen unseres Abgesangs.

Nach dem Niedergang des Glaubens glauben ja die Menschen nicht mehr gar nichts, sondern einfach alles. Nach dem Niedergang des Glaubens hätte das Denken das Vakuum füllen können, doch es wird auch das Denken abgeschafft. Wir hören auf zu glauben (Gott sei Dank) und hören auch auf zu denken. Es erinnert mich an die deutsche Rechtschreibreform, die so vor zwanzig Jahren stattgefunden hat. Als die neuen Regeln kamen, haben die Menschen nicht etwa klarer geschrieben, sondern aufgehört, sich überhaupt an irgendwelche Regeln zu halten. Sie schreiben seither ohne jegliche Syntax und Grammatik.

Kultur war eine nette Idee, welche die Affen damals hatten, aber sie sollte überdacht werden. Vielleicht hören wir auch auf zu schreiben. Jetzt. story.done

© Marina Markétha Kowalski 2023-05-08

Genres
Spiritualität
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel
Hashtags