StraĂźenbahnromantik

dieschreiberei

von dieschreiberei

Story

Wieder einmal bin ich viel zu früh dran. Es gibt kaum etwas, was ich so sehr hasse, wie das Zuspätkommen. Darum bin ich immer überpünktlich. Heute habe ich mich aber selbst übertroffen. Eine geschlagene Stunde zu früh. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich die Uhr falsch herum angelegt habe und einem Herzstillstand nahe war. Erst in der Straßenbahn, als ich meine Freundin unter Entschuldigungsbekundungen darüber instand setzte, klärte sie mein Missgeschick auf.

Da sitze ich nun und überlege, wie ich die Zeit bis zu unserem Treffen totschlagen kann. Ich habe ganz vorne in der Straßenbahn Platz genommen. Blicke aus dem Fenster. Sehe die Bäume und Hochhäuser an mir vorüberziehen. Schräg gegenüber sitzt ein älterer Herr. Er wirkt betrübt. Wolken hängen an diesem sonnigen Tag über seinem Gemüt. Bei der nächsten Haltestelle steigen viele Leute ein. Auch eine ältere Dame. Sie blickt sich um und setzt sich dem Herrn gegenüber. Mürrisch blickt er auf und sieht sie vorwurfsvoll an, da sie ihm, als die Bahn weggefahren ist, auf die Zehen gestiegen ist. „Oh, tut mir leid“, murmelt sie, ohne ihn anzusehen. „Grete, bist du es? Das kann doch gar nicht sein“, sprudeln die Worte nur so aus dem Mann heraus. Völlig perplex hält sie in der Bewegung inne, blickt auf und ihre Augen beginnen zu strahlen. „Oh du heilige…“, ruft sie hocherfreut. „Du bist es definitiv, welch andere Dame könnte sich so unvorteilhaft ausdrücken“, lacht der Herr. Kein bisschen mürrische Stimmung ist mehr übrig. Er scheint um Jahre jünger geworden zu sein. Innerhalb von fünf Minuten. Das Lachen lässt in schelmisch dreinschauen. Die beiden fallen sich um den Hals. Sind das Highlight in der Straßenbahn. Ich habe meinen Blick schon lange nicht mehr von ihnen abgewendet. Habe jedes Detail ihrer Unterhaltung in mir aufgesogen. Stelle mir die beiden vor. Als sie noch jung waren. Und den Zeitpunkt, an dem sie sich aus den Augen verloren habe. Bei diesem Gedanken werde ich sogar ein wenig traurig.

„Ich kann es noch immer nicht glauben, dass der September im Jahre 1956 unser Schicksalsmonat war. Das ist schon so viele Jahre her“, lausche ich weiter dem Gespräch der beiden. Sie wirken wie zwei Teenager. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, sie sind auf dem Weg zu einem ihrer unzähligen ersten Dates.

„Scheiße“, rufe ich, als ich auf die Uhr blicke. Ich bin viel zu spät dran. Und dem ist noch nicht genug. Wir sind an der Endhaltestelle der Straßenbahn. Sie ist beinahe vollkommen leer. Nur der ältere Herr, die Frau und ich. Wir blicken uns an und brechen in lautes Gelächter aus. Auch die beiden haben alles um sich herum vergessen. Nun sitzen wir hier, mit einer halben Stunde Aufenthalt. Die beiden beginnen, mir ihre Geschichte zu erzählen.

Meine Freundin am anderen Ende der Leitung ist ĂĽber meine Nachricht nicht sonderlich erfreut.

© dieschreiberei 2021-05-12

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